Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Warum es im Lockdown Gottesdienste braucht
Es hat den Anschein, als genießen die Kirchen Privilegien, wenn sie trotz der Pandemie öffentlich und in Gemeinschaft feiern. Doch sie tun es, um die Seelen zu erheben. Das geht nur im wirklichen Miteinander
Natürlich kann man Gottesdienste abfilmen und als Videos im Internet streamen. Im ersten Lockdown vor einem Jahr war dies wochenlang gang und gäbe. Die ganze Karwoche und das Osterfest waren für die breite Öffentlichkeit bloß am Bildschirm mitzufeiern. Nur eine Handvoll Akteure – in der bischöflichen Hauskapelle waren dies zum Beispiel die Lektorin, der Organist, der Mesner, der Kameramann und der Bischof selbst – durfte die Liturgie live in der Kirche erleben. Von „Geistermessen“war bald die Rede und niemandem recht wohl dabei.
Dieses Jahr sieht Ostern anders aus, obwohl schon wieder ein Lockdown das öffentliche Leben drosselt. Genießen die Kirchen ein Privileg, weil sie gemeinschaftlich Gottesdienste feiern dürfen, während Geschäfte, Gastronomie, Kinos, Theater und Sporthallen noch geschlossen sind? In den Augen liberaler Kritiker hat es den Anschein, als würden die Kirchen ungerechtfertigt vom Staat bevorzugt. Aber Liturgie ist mehr als Konsum, sogar mehr als Kunstgenuss, der Gottesdienst ist Seelenerhebung.
Der Begriff klingt altmodisch und überlebt, trifft aber noch immer den Wesenskern von Religion. Jeder Gottesdienst schafft einen Freiraum, der nicht gleich einem bestimmten Zweck dient. Ich bin einfach da, spüre die Weite des sakralen Raumes, gebe mich hin und tauche ein in Riten, Formeln, Gesänge und Worte. Ich muss nichts verstehen, nichts tun oder sagen, wenn mir danach nicht ist. Jederzeit kann ich wieder hinausgehen. Der Gottesdienst nötigt lediglich das Stillewerden ab. Zugleich stiftet er Gemeinschaft, auch wenn man niemand sonst dabei bekannt ist und mit den Leuten fremdelt.
Dies alles lässt sich nur unvollkommen in die Virtualität übertragen. Den Zuschauer am Bildschirm trennt eine Scheibe und damit eine ganze Dimension vom echten Geschehen. Sofern er überhaupt zeitgleich dabei ist und nicht eine früher aufgenommene Konserve zu sehen kriegt. Im ersten Lockdown hatten Gläubige beim Streamen irgendwann den Eindruck, vom Eigentlichen abgeschnitten zu sein. Die Sehnsucht nach wirklicher gottesdienstlicher Gemeinschaft wuchs. Bis die Politik akzeptierte, dass es sich beim Gottesdienst um eine Veranstaltung eigener Qualität handelt. Die seither geltenden Hygienekonzepte in unseren Kirchen mögen lästig sein, immerhin ermöglichen sie grundsätzlich den Zugang zu Präsenzgottesdiensten. Weit auseinander zu sitzen in den Bänken, stört zwar empfindlich das
Gefühl für Gemeinschaft. Auch das Singverbot schmälert die Teilhabe und ständig die FFP2-Maske zu tragen macht das Atmen schwerer. Doch nicht wenige Gläubige nehmen das Unbill auf sich, um dabei sein zu können. Zu Ostern dürften so ziemlich alle Festgottesdienste ausreserviert sein.
Freilich: Die Kirchen sind unter den gegebenen Umständen leerer geworden. Den einen ist es zu beschwerlich, andere halten sich ängstlich fern, manche haben nicht ihren Wunschtermin bekommen, weil an bestimmten Festtagen die
Das Unbill von Hygieneregeln nehmen viele auf sich
Nachfrage einfach höher ausfällt. Wahrscheinlich wird auch nach dem Ende der Pandemie eine Reihe von ihnen nicht mehr zurückkehren. Weil sie für sich entdeckt haben, dass es am Bildschirm zuhause genauso geht, oder weil sie schlicht das Interesse an der Kirche verloren haben. Oder – aus anderen Gründen – das Vertrauen in sie.
Der Schwund wird auch die Aktiven umfassen, die Sängerinnen und Sänger in den Kirchenchören, die dienstfertigen Helfer in den Kirchengemeinden, die Engagierten in der Kinderpastoral oder im Eine-Welt-Kreis. Ein Jahr erzwungene Pause bedeutet, dass Routinen unterbrochen wurden und Verunsicherung eingetreten ist. Zur Wahrheit gehört auch, dass sich die Ehrenamtlichen in den Kirchen meist aus höheren Altersklassen zusammensetzen. Sollte man deshalb den Kopf hängen lassen?
Beileibe nicht. Allen Schwarzmalern zum Trotz hat die Religion eine Zukunft. Die Kirche wird ihre Erscheinungsform wandeln – und dieser Prozess wird sich erheblich beschleunigen. In der Pandemie sind den Gemeinden etliche Jüngere zugewachsen, die an digitaler Videotechnik und modernen Präsentationsformen Spaß haben. Dieses neue Potenzial sollte genutzt werden, gerade weil nichts so bleibt, wie es war. Auch die Religion wird in den digitalen Raum vordringen und trotzdem eine Gemeinschaft zum Anfassen bleiben. Denn wahren Trost, echte Geborgenheit, innige Berührung, herzliche Freude und fröhliche Feier – das gibt es nur im wirklichen Leben. Bestenfalls hebt uns all dies über uns hinaus.