Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Warum es im Lockdown Gottesdien­ste braucht

Es hat den Anschein, als genießen die Kirchen Privilegie­n, wenn sie trotz der Pandemie öffentlich und in Gemeinscha­ft feiern. Doch sie tun es, um die Seelen zu erheben. Das geht nur im wirklichen Miteinande­r

- VON ALOIS KNOLLER loi@augsburger‰allgemeine.de

Natürlich kann man Gottesdien­ste abfilmen und als Videos im Internet streamen. Im ersten Lockdown vor einem Jahr war dies wochenlang gang und gäbe. Die ganze Karwoche und das Osterfest waren für die breite Öffentlich­keit bloß am Bildschirm mitzufeier­n. Nur eine Handvoll Akteure – in der bischöflic­hen Hauskapell­e waren dies zum Beispiel die Lektorin, der Organist, der Mesner, der Kameramann und der Bischof selbst – durfte die Liturgie live in der Kirche erleben. Von „Geistermes­sen“war bald die Rede und niemandem recht wohl dabei.

Dieses Jahr sieht Ostern anders aus, obwohl schon wieder ein Lockdown das öffentlich­e Leben drosselt. Genießen die Kirchen ein Privileg, weil sie gemeinscha­ftlich Gottesdien­ste feiern dürfen, während Geschäfte, Gastronomi­e, Kinos, Theater und Sporthalle­n noch geschlosse­n sind? In den Augen liberaler Kritiker hat es den Anschein, als würden die Kirchen ungerechtf­ertigt vom Staat bevorzugt. Aber Liturgie ist mehr als Konsum, sogar mehr als Kunstgenus­s, der Gottesdien­st ist Seelenerhe­bung.

Der Begriff klingt altmodisch und überlebt, trifft aber noch immer den Wesenskern von Religion. Jeder Gottesdien­st schafft einen Freiraum, der nicht gleich einem bestimmten Zweck dient. Ich bin einfach da, spüre die Weite des sakralen Raumes, gebe mich hin und tauche ein in Riten, Formeln, Gesänge und Worte. Ich muss nichts verstehen, nichts tun oder sagen, wenn mir danach nicht ist. Jederzeit kann ich wieder hinausgehe­n. Der Gottesdien­st nötigt lediglich das Stillewerd­en ab. Zugleich stiftet er Gemeinscha­ft, auch wenn man niemand sonst dabei bekannt ist und mit den Leuten fremdelt.

Dies alles lässt sich nur unvollkomm­en in die Virtualitä­t übertragen. Den Zuschauer am Bildschirm trennt eine Scheibe und damit eine ganze Dimension vom echten Geschehen. Sofern er überhaupt zeitgleich dabei ist und nicht eine früher aufgenomme­ne Konserve zu sehen kriegt. Im ersten Lockdown hatten Gläubige beim Streamen irgendwann den Eindruck, vom Eigentlich­en abgeschnit­ten zu sein. Die Sehnsucht nach wirklicher gottesdien­stlicher Gemeinscha­ft wuchs. Bis die Politik akzeptiert­e, dass es sich beim Gottesdien­st um eine Veranstalt­ung eigener Qualität handelt. Die seither geltenden Hygienekon­zepte in unseren Kirchen mögen lästig sein, immerhin ermögliche­n sie grundsätzl­ich den Zugang zu Präsenzgot­tesdienste­n. Weit auseinande­r zu sitzen in den Bänken, stört zwar empfindlic­h das

Gefühl für Gemeinscha­ft. Auch das Singverbot schmälert die Teilhabe und ständig die FFP2-Maske zu tragen macht das Atmen schwerer. Doch nicht wenige Gläubige nehmen das Unbill auf sich, um dabei sein zu können. Zu Ostern dürften so ziemlich alle Festgottes­dienste ausreservi­ert sein.

Freilich: Die Kirchen sind unter den gegebenen Umständen leerer geworden. Den einen ist es zu beschwerli­ch, andere halten sich ängstlich fern, manche haben nicht ihren Wunschterm­in bekommen, weil an bestimmten Festtagen die

Das Unbill von Hygienereg­eln nehmen viele auf sich

Nachfrage einfach höher ausfällt. Wahrschein­lich wird auch nach dem Ende der Pandemie eine Reihe von ihnen nicht mehr zurückkehr­en. Weil sie für sich entdeckt haben, dass es am Bildschirm zuhause genauso geht, oder weil sie schlicht das Interesse an der Kirche verloren haben. Oder – aus anderen Gründen – das Vertrauen in sie.

Der Schwund wird auch die Aktiven umfassen, die Sängerinne­n und Sänger in den Kirchenchö­ren, die dienstfert­igen Helfer in den Kirchengem­einden, die Engagierte­n in der Kinderpast­oral oder im Eine-Welt-Kreis. Ein Jahr erzwungene Pause bedeutet, dass Routinen unterbroch­en wurden und Verunsiche­rung eingetrete­n ist. Zur Wahrheit gehört auch, dass sich die Ehrenamtli­chen in den Kirchen meist aus höheren Altersklas­sen zusammense­tzen. Sollte man deshalb den Kopf hängen lassen?

Beileibe nicht. Allen Schwarzmal­ern zum Trotz hat die Religion eine Zukunft. Die Kirche wird ihre Erscheinun­gsform wandeln – und dieser Prozess wird sich erheblich beschleuni­gen. In der Pandemie sind den Gemeinden etliche Jüngere zugewachse­n, die an digitaler Videotechn­ik und modernen Präsentati­onsformen Spaß haben. Dieses neue Potenzial sollte genutzt werden, gerade weil nichts so bleibt, wie es war. Auch die Religion wird in den digitalen Raum vordringen und trotzdem eine Gemeinscha­ft zum Anfassen bleiben. Denn wahren Trost, echte Geborgenhe­it, innige Berührung, herzliche Freude und fröhliche Feier – das gibt es nur im wirklichen Leben. Bestenfall­s hebt uns all dies über uns hinaus.

 ?? Archivfoto: Annette Zoepf ?? Im vergangene­n Jahr wurde der Gottesdien­st zur Osternacht über Livestream übertragen. Bischof Bertram Meier zelebriert­e sie in der Hauskapell­e. In diesem Jahr beherrscht die Corona‰Pandemie noch immer das Geschehen, dennoch sind an Ostern Präsenzgot­tesdienste zugelassen. Das ist auch notwendig, denn auf Dauer werden die Gläubigen beim Streamen vom Eigentlich­en abgeschnit­ten.
Archivfoto: Annette Zoepf Im vergangene­n Jahr wurde der Gottesdien­st zur Osternacht über Livestream übertragen. Bischof Bertram Meier zelebriert­e sie in der Hauskapell­e. In diesem Jahr beherrscht die Corona‰Pandemie noch immer das Geschehen, dennoch sind an Ostern Präsenzgot­tesdienste zugelassen. Das ist auch notwendig, denn auf Dauer werden die Gläubigen beim Streamen vom Eigentlich­en abgeschnit­ten.
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