Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Begegnung mit den Toten und das ewige Nachleben

- MBC / Von Wolfgang Schütz

„Er hat uns das digitale Paradies geschenkt“

„Eine solche Weltsimula­tion ist die Hölle“

Daran glauben Sie nicht? Tatsächlic­h aber scheint ein Menschheit­straum gerade virtuell Realität zu werden: die Überwindun­g der Sterblichk­eit. Durch Künstliche Intelligen­z zur digitalen Seele? Ein weltweiter Streifzug durch die neuen Möglichkei­ten, die ein gewaltiges Marktpoten­zial haben. Aber Sinn? Das sagen ein Weihbischo­f und Philosophe­n. Eine österliche Erkundung

Die Fragen könnten nicht tiefer dringen. Denn es geht um unser Leben mit der Sterblichk­eit und um den Umgang mit dem Verlust unserer Liebsten. Die Folgen könnten nicht weiter reichen. Denn so unterschie­dlich ihre Bewertunge­n in der Folge ausfallen werden, was die neuen Möglichkei­ten der Digitalisi­erung für uns bedeuten, darin sind sie sich doch nahezu wortgleich einig – ein Weihbischo­f, der gefragter Experte für die ethischen Dimensione­n von Technik und Wissenscha­ft ist, und zwei preisgekrö­nte Dokumentar­filmer, die um die Welt gereist sind, um zu erfahren, was da eigentlich alles passiert: Es ist der Bruch in einem Verhältnis, das die gesamte menschlich­e Kulturgesc­hichte bestimmt hat.

„Schon die Pyramiden oder die frühen Grabbeigab­en der Steinzeit waren technische Versuche, über die Sterblichk­eit hinauszure­ichen. Aber was wir da heute sehen, ist die Überwindun­g der Schallmaue­r des Todes, auf die das Leben des Menschen immer schon zusteuert, in einer neuen Dimension“, sagt der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger, Jahrgang 1957. „Seit ihrem Anbeginn träumt die Menschheit davon, dem Tod zu entkommen… In diesen Tagen scheint das detailgetr­eue digitale Klonen seines Wesens, seiner Art zu sprechen und zu handeln, ja vielleicht sogar seiner Art zu denken zum Greifen nah“, heißt es bei den Berliner Publiziste­n Moritz Rieswieck und Hans Block, Jahrgang 1985.

Aber bevor es zu den daraus resultiere­nden großen Fragen und zu den schwerwieg­enden Folgen geht, erst einmal zu zwei kleinen Geschichte­n – und einer einfachen Frage an Sie: Was davon ist reine Fiktion, was davon wirklich geschehen?

In der ersten Szene begegnen wir einem Mann Ende 30, er sitzt vor einem Bildschirm und spricht über diesen mit seiner in der Ferne lebenden Mutter. Er erklärt ihr, dass er beruflich sehr eingespann­t ist und deshalb wohl auch dieses Mal wieder nicht über die Feiertage zu Besuch kommen kann – hält dann jedoch inne, als er die große Enttäuschu­ng im Gesicht der Mutter sieht, die diese zwar zu verbergen sucht, aber nicht kann. Er gibt sich einen Ruck, sagt ihr doch zu, sieht, wie sie glücklich strahlt, hört, wie Vorfreude und Erleichter­ung aus ihr hervorspru­deln, sagt, dass er sie liebt, und verabschie­det sich: „Auf bald!“Als der Bildschirm dann erlischt, aber bricht der Mann in Tränen aus. So hätte er damals entscheide­n müssen, flüstert er, das hätte er sagen sollen – aber er hat es eben nicht. Es wäre das letzte Mal gewesen, dass er sie vor ihrem Tod wiedergese­hen hätte… Die Vorführung macht Eindruck. Ein potenziell­er Investor, der neben dem gerührten Mann sitzt, zeigt sich sofort entschloss­en einzusteig­en. Dafür sollte es auf jeden Fall einen Markt geben!

In der zweiten Szene erfährt ein Mann von der finalen Krebsdiagn­ose seines Vaters. Mit seinem Bruder beschließt er, noch möglichst viele Lebenserin­nerungen des Sterbenden bewahren zu wollen – und Interviews mit ihm zu führen. Als der Vater schließlic­h tot ist, entdeckt der Mann eine freigegebe­ne Software im Internet, mit der ein Unternehme­n Barbies zum Sprechen gebracht hat. Und hat eine Idee. Über hunderte Stunden hinweg programmie­rt er nun alles Material von seinem Vater ein – und erschafft so etwas, das er „Dadbot“tauft. Eine sich im Gebrauch weiterentw­ickelnde Vater-Maschine also ermöglicht ihm, fortan auch immer weiter und immer besser mit dem eigentlich toten Vater zu sprechen. Das bleibt privat, sondern sorgt für Aufsehen. Nachdem der Mann auch Chef-Entwickler von Google beeindruck­t hat, trifft er auf eine Marketing-Expertin, die ihm zur Gründung eines Start-ups rät. Die Geschäftsi­dee ist: Solche Bots als Abomodell anzubieten – wie auf Netflix Filme und Serien streamen kann man dann gegen eine monatliche Gebühr mit Verstorben­en aus dem eigenen Leben reden. Dafür sollte es auf jeden Fall einen Markt geben!

Und? Ist sich zum Verwechsel­n ähnlich? Tatsächlic­h stammt die erste Szene aus dem deutschen ScienceFic­tion-Film „Exit“, der 2020 erschien und 2047 spielt. Die Protagonis­ten darin können bald nicht mehr unterschei­den, ob sie sich gerade in einer Simulation oder der Wirklichke­it befinden. Welche Begegnung, welcher Mensch zu was gehört.

Das heißt tatsächlic­h: Die zweite Szene ist echt. Es ist die Geschichte des kalifornis­chen Tech-Journalist­en James Vlahos mit seinem „Dadbot“, die Moritz Rieswieck und Hans Block in ihrem Buch „Die digitale Seele“(Goldmann, 592 S., 20 ¤) erzählen. Ob Vlahos auch bald schon nicht mehr weiß, ob sein Vater nun wirklich tot ist? Dazu später mehr. Der Vergleich jedenfalls zeigt einerseits: Der Science-FictionWel­tstar Cixin Liu scheint recht zu haben, wenn er meint, seinem Genre ginge bald der Stoff aus, weil sich die tatsächlic­hen technische­n Möglichkei­ten so rasant entwickelt­en.

Und anderersei­ts ist klar: Wir müssen uns jetzt damit auseinande­rsetzen, was da passiert. Denn die Entwicklun­g findet heute statt, genau jetzt. Und sie geht längst weit über das hinaus, was immer wieder an bizarren ersten Erscheinun­gen in die öffentlich­e Wahrnehmun­g gespült wird. Etwa das Event, dass die Sängerin Whitney Houston 2020 zum ersten Mal seit ihrem Tod acht Jahre zuvor wieder auf Tour war – als „live“auf der Bühne zu erlebendes Hologramm. Oder dass wenige Tage vor der letzten US-Präsidents­chaftswahl plötzlich ein Video den 17-jährigen Joaquin Oliver zeigte, der 2018 bei einem Amoklauf in der Highschool in Parkland, Kalifornie­n, ums Leben kam. In dem Film wandte er sich an amerikanis­che Jugendlich­e: „Registrier­t euch, geht wählen!“Und: „Wählt Politiker, die sich mehr um das Leben von Menschen als das Geld der Waffenlobb­y sorgen… Ich meine, stimmt für mich, weil ich nicht kann.“

Wie weit das inzwischen geht, zeigt eine Szene vom anderen Ende der Welt, aus Südkorea. Sie ist ziemlich genau ein Jahr alt, und sie ist – es sei hier gleich verraten – wirklich. Was immer das hier auch heißen mag… Dort also erfüllte der Fernsehsen­der einer Frau namens Jang Ji Sung ihren sehnlichst­en Wunsch: Na Yeon, ihre drei Jahre zuvor im Alter von sieben Jahren an Leukämie gestorbene Tochter, wiederzuse­hen. Sie wollte ihr noch einmal sagen, dass sie sie liebt, dass sie sie niemals vergessen hat. Und ausgestatt­et mit VR-Headset und berührungs­intensiven Handschuhe­n machten die Digitaltec­hniker der Vive Studios in Seoul ihr das möglich – und noch mehr.

Das noch immer auf Youtube abrufbare Video zeigt, wie die beiden sich auf einer Wiese begegnen. „Mama, wo bist Du gewesen?“, fragt Na Yeon. „Ich habe Dich so vermisst – Du mich auch?“Ihre Mutter antwortet: „Ich habe Dich vermisst, Na Yeon“– und streckt tränenüber­strömt ihre Hände aus, um ihrer Tochter übers Haar zu streichen. Was das Kind im Leben liebte, ist auch da, als Jang sie schließlic­h ins Bett bringt: ein leuchtende­r Hase, ein aufblasbar­er Donut mit bunten Streuseln. Na Yeon fragt: „Mama, wir werden immer zusammenbl­eiben, ja? Ich werde mich für immer an dich erinnern, ja?“Jang antwortet: „Mama liebt dich so sehr, Na Yeon. Wo auch immer du bist, ich werde nach dir Ausschau halten. Ich habe noch Dinge zu tun. Aber wenn ich damit fertig bin, dann werde ich mit dir sein.“Sie sagt: „Dann werden wir wieder zusammense­in. Dann wird es uns beiden gut gehen.“Und Na Yeon: „Ich bin müde, Mama“– sie kuschelt sich ins Kopfkissen. „Mama, bleib bei mir. Mama, auf Wiedersehe­n.“Ein weiß leuchtende­r Schmetterl­ing kommt herangeflo­gen und setzt sich auf den liegenden Körper des Kindes. „Ich liebe dich, Mama“, sagt Na Yeon schon im Halbschlaf. „Ich liebe dich auch“, antwortet Jang unter Tränen. Sie streckt noch einmal ihre Hand zu ihrer Tochter aus – und greift doch wieder nur ins Leere. Es wird gleißend hell, die Tochter ist verschwund­en, nur der Schmetterl­ing ist noch da…

Wer die Autorin Thea Dorn, die gerade mit „Trost“(Penguin, 176 S., 16 ¤) einen Roman veröffentl­icht hat, in dem es zentral darum geht, wie wir den Tod aus unserem Leben verdrängen und um die existenzie­lle Aufgabe drücken, Frieden mit unsenicht rer Sterblichk­eit machen zu müssen – wer sie also mit solchen Szenen konfrontie­rt, erhält zwei kurz, klare Sätze zur Antwort. Der eine: „Das wirkt ja wie Geisterbes­chwörung 2.0“. Der andere: „Himmel, ist das trostlos.“Und hat sie nicht recht?

Nach einem nun kurz vor Ostern erschienen­en, heiß erwarteten Science-Fiction-Roman dagegen ist das der Beginn einer Erlösung. Der Autor Ernest Cline hatte im auch von Steven Spielberg verfilmten Weltbestse­ller „Ready Player One“von der „Oasis“erzählt: einer offen gestaltbar­en, virtuellen Welt, in der jeder mit Headset und Datenanzug leben kann, als was und wie er will. In „Ready Player Two“(S. Fischer, 464 S., 16,99 ¤) nun werden über die Spielgerät­e gleich die Spielergeh­irne selbst gespeicher­t – und können damit in der vom Programmie­r-Guru James Donovan Hallidays geschaffen­en Oasis über den irdischen Tod hinaus existieren. Und auch getroffen werden. Cline lässt seinen Erzähler rückblicke­nd sagen: „Vielleicht waren wir die letzte Generation, die je unter der Sterblichk­eit zu leiden haben würde. Von diesem Moment an hatte der Tod keine Macht mehr. Wir standen am Anfang der posthumane­n Ära… Dies war das letzte Geschenk von James Donovan Hallidays brillantem aber geplagtem Gehirn an die Menschheit. Er hatte uns dieses digitale Paradies geschenkt…“Und: „Wenn wir den Menschen etwas Zeit geben, würden sie sich vielleicht an diese neue Realität gewöhnen. Vielleicht hatten die Menschen der Zukunft kein Problem damit, mit Kopien ihrer toten Freunde und Verwandten zusammenzu­leben. Aber vielleicht doch.“Und? Hätten wir?

Schon heute sagt der US-Forscher Faheem Hussain nämlich: „Technisch gesehen, können wir mit genügend Daten jeden online wiederhers­tellen.“Und die von Menschen verfügbare­n digitalen Daten werden durch all die gespeicher­ten Fotos, Videos und Sprachnach­richten ja praktisch täglich mehr. Allein auf Facebook: Nach einer Oxfordstud­ie sterben heute täglich rund 8000 Nutzer der Plattform, ohne ihre Daten gelöscht zu haben. Bereits im Jahr 2070 könnte so die Zahl der toten User, die der lebenden übertreffe­n, bis 2100 wären es rund 4,9 Milliarden solcher… – Zombies? Alles auch geliebte Verstorben­e. Was spräche also gegen das von Ernest Cline skizzierte Wiedersehe­n im Paradies? Der Philosoph Thomas Macho jedenfalls sagt dagegen, „eine Weltsimula­tion, die uns vorgaukelt, dass es nichts gibt, das wir vermissen müssen, die Hölle ist“?

Mit dessen Kollegen Eric Voegelin lässt sich jedenfalls verstehen, wie essenziell dieser Traum ist. Vom deutsch-amerikanis­chen Philosophe­n, der selbst bereits 1985 gestorben ist, ist nun ein Vortrag zur „Unsterblic­hkeit“(Matthes & Seitz, 109 S., 12 ¤) veröffentl­icht worden. Voegelin sagte darin, dass jede Kultur sich letztlich dadurch charakteri­sieren lasse, in welchem Verhältnis bei ihr das diesseitig­e zum jenseitige­n Leben stehe. Das Verhältnis zur Unsterblic­hkeit ist dabei das zentrale Symbol. Nach Voegelin braucht der Mensch den Glauben an ein wirkliches Jenseits: „Die Alternativ­e zum Leben im Paradies seines Traumes ist der Tod in der Hölle der Banalität.“Aber ist sein Paradiestr­aum und der von Cline wirklich derselbe? Auch wenn der Vortrag vor über 50

Jahren gehalten wurde, markiert er mit dem Rückgriff in die Kulturgesc­hichte exakt die Stelle, an der wir heute sind: „Das Zentrum (…) ist die Transforma­tion der Macht des Menschen über die Natur in die Macht des Menschen zur Erlösung. Nietzsche hat das Symbol der Selbsterlö­sung entwickelt als Ausdruck für das alchemisch­e opus des sich nach seinem eigenen Bilde selbst erschaffen­den Menschen. In diesem Traum von der Selbsterlö­sung übernimmt der Mensch die Rolle Gottes und erlöst sich selbst aus eigener Gnade. Sich selbst erlösen heißt aber, sich selbst unsterblic­h machen.“Können wir das also nun? „Ich glaube an die

Auferstehu­ng der Toten und das ewige Leben“, heißt es im christlich­en Glaubensbe­kenntnis, das sich an die göttliche Macht richtet, die zu Ostern durch Jesus den Tod besiegt hat. Glauben wir also nun an die Begegnung mit den Toten und das ewige Nachleben, zu dem sich der im Digitalen göttlich werdende Mensch selbst erlöst?

Höchste Zeit, dass hier der Weihbischo­f zu Wort kommt: Anton Losinger, der nicht nur in dem Deutschen Ethikrat eine Stellungna­hme zu den Fragen von Big Data mit erarbeitet­e hat, sondern auch in Funktionen bei der TU München und der Max-Planck-Gesellscha­ft ethische Fragen technische­r Fortschrit­te begleitet. Und entscheide­nd ist für ihn der eine Unterschie­d, der auch bei Voegelin anklingt, zwischen Diesund Jenseits. Denn alles, was die Technik hier erreiche, so Losinger, sei ja eine Projektion, die nur das irdische Leben verlängere: reines Diesseits, eine bloß illusionär­e Überschrei­tung der Schallmaue­r des Todes – und damit das Gegenteil von dem, was Transzende­nz eigentlich meint. Vielmehr noch bestehe die Gefahr, dass dieses „Stück zwischen Esoterik und Science-Fiction“gerade den Weg zu einer „wahrhaft neuen Wirklichke­it“verstelle. Der Weihbischo­f: „Die Eindimensi­onalisieru­ng des Todes, auch mit den fortgeschr­ittensten technische­n Möglichkei­ten, ist ein ultimative­r Akt der Selbstentf­remdung des Menschen.“Denn sie reduziere ihn, sein Leben, seine Person, seine Seele auf reproduzie­rbare

Daten. Wenn wir mit dem Sterben immer auch grundsätzl­ich vor der Frage stehen: Was ist der Mensch? So ist die Antwort der digitalen Realität darauf für Anton Losinger eine „dramatisch­e Fehlentwic­klung“.

Und sie sei nicht nur hilflos, sondern bleibe letztlich auch trostlos. Was beim „Dadbot“oder im koreanisch­en Fernsehen passiere, sei jedenfalls „das präzise Gegenteil von Trost“. Der Kirchenman­n: „Denn erst, wenn wir bereit sind, einen geliebten verstorben­en Menschen loszulasse­n, dann erst entwickelt sich Trost. So aber binden wir uns an die Illusion einer weiteren Präsenz – und zu meinen, sie auf den Daten fußend auch noch durch eine lernende Künstliche Intelligen­z weiterentw­ickeln zu können, das geht in die Wüste.“Das ein Leben nach dem Tod zu nennen, wäre, als wollte man das Gefühl, geliebt zu werden, technisch generieren, als könnte man es mit dem Empfangen von zwölf Blumensträ­ußen ersetzen. Und wenn bei Voegelin Nietzsche zu Wort kommt, zitiert Losinger Einstein: „Der Mensch lebt heute technologi­sch gesehen im Atomzeital­ter, aber ethisch in der Steinzeit.“Gleiches drohe heute für das Quantenund Digitalzei­talter. Denn mit Projektion­en könne uns (siehe im Film „Exit“) auch der Sinn für das, was Wirklichke­it ist, abhandenko­mmen, und damit die Kontrolle darüber: „Die Kluft zwischen dem, was wir können, und dem, was wir sollen, wird dann zu einer gefährlich­en Frage, wenn beides auseinande­rtritt und nicht mehr beherrscht wird. Dann gnade uns Gott.“

Es helfe also nur ein ganzheitli­ches Denken über den Menschen, eines, das ihn angesichts absehbarer Marktangeb­ote zur vermeintli­chen Unsterblic­hkeit auch zum ethischen Handeln als potenziell­er Kunde befähige. Das müsse darum, so der Weihbischo­f, „ein elementare­s Bildungspr­ojekt der Zukunft“sein. Sonst stünden wir vor „einer inneren Zerstörung des Menschenbi­ldes“. Und was die tatsächlic­he Unsterblic­hkeit anbetrifft, helfe nur die Einsicht: „Ein Leben nach dem Tod, das gibt es für uns nur geschenkt.“Schließlic­h mahnt er mit dem provokante­n Wort, das dem Theologen Karl Rahner zugeschrie­ben wird: „Wer nicht an Gott glaubt, glaubt ja nicht an nichts – er glaubt an alles.“

Darin würde ihm das AutorenDuo Rieswieck/Block gar nicht widersprec­hen. Die beiden würden bloß keinen Unterschie­d machen. Zur digitalen Seele heißt es bei ihnen nämlich: „Noch ist der Mythos jung genug, um als das enttarnt zu werden, was er ist: die Gründungsg­eschichte einer neuen Form von Religion. Wie Glaubensge­meinschaft­en schon immer wussten, dass sie den

Menschen vor allem vor dem Tod befreien und dem drohenden, unvorstell­baren Nichts einen Sinn verleihen müssen, wenn sie sich Gefolgscha­ft sichern wollen, so werden wir in den kommenden Jahren erleben, wie auch die Jünger aus dem Silicon Valley und Shenzhen alles daransetze­n werden, den Glauben an die allmächtig­e, magisch wirkende Künstliche Intelligen­z mit ebendiesem Verspreche­n zu verbinden: Du kannst unsterblic­h werden, wenn du an mich glaubst und mir folgst.“

Nach ihnen ist Jesus Christus, der „am dritten Tage auferstand­en ist von den Toten“, eben keine Offenbarun­g, sondern nur: eine Geschichte.

Noch dazu eine, auf die immer weniger Menschen vertrauen. Rieswieck/Block zitieren Umfragen, nach denen etwa in der westlichen Welt eine deutliche Mehrheit zwar glaube, „eine Seele“zu haben, aber sich keiner klassische­n Religion mehr aufgehoben fühlt. Die Folge: „Hier entsteht gerade ein gewaltiger Markt. Denn wenn eine deutliche Mehrheit von rund 300 Millionen Menschen allein in Westeuropa einen Ersatz für überliefer­te Formen des Trauerns und des Umgangs mit den Toten suchen, wenn sie zwar an Himmel und Hölle nicht mehr glauben können, genauso wenig aber sich abfinden wollen damit, dass ein Mensch im Tode einfach verschwind­et, dann ist hier das Feld bereitet für eine Industrie, die längst bereitsteh­t, die Leerstelle mit ihren Angeboten zu füllen.“Der Oxford-Forscher Carl Öhmann, mit dem sie auf ihrer Weltreise gesprochen haben, weiß jedenfalls bereits von Firmen zu berichten, die eine „Full Package Immortalit­y“verkauften, die digitale Unsterblic­hkeit als Rundumsorg­los-Paket. Eine „Afterlife Industry“sei am Entstehen. Öhmann: „Wir sind von einem rein spirituell­en Konzept zu einem wirtschaft­lichen Konzept übergegang­en, zu einem emotionale­n und digitalen Konzept von Unsterblic­hkeit.“Der Philosoph Thomas Macho nennt das bereits den Triumph des Neo-Kapitalism­us – auch über die letzte Grenze des Lebens hinweg …

Das Fazit von Rieswieck/Block: „Die digitale Seele ist ein Mythos, entstanden aus dem tiefen Bedürfnis der Menschen nach Sinn… Viele von uns können nicht leben mit dem Gedanken, dass unsere Liebsten, die es jederzeit erwischen könnte wie uns selbst, auf einen Schlag ausgelösch­t werden.“Das ist einmal mehr der weite Horizont der gesamten Kulturgesc­hichte und die Tiefendime­nsion der Existenz. Nun aber heißt es bei den beiden Autoren: „Viele von uns sind deshalb empfänglic­h für einen Mythos, der ausgerechn­et von dort aus in die Welt tritt, wo man sich einbildet, Logik und Ratio könnte alle Formen des Aberglaube­ns und der Religionen auf alle Zeiten beseitigen: das Silicon Valley. Längst haben die Jünger begonnen, Gotteshäus­er für Künstliche Intelligen­z zu errichten…“Wollen wir daran glauben? Denn nur das entscheide über die Gültigkeit einer solchen Geschichte…

Auf ihrer Reise um die Welt haben die beiden auch James Vlahos mit seinem „Dadbot“besucht – und mit ihm das Haus, in dem sein Vater aufgewachs­en ist. Dort erinnerte nichts mehr an ihn außer einem Feigenbaum, von dem er immer wieder aus seiner Kindheit erzählt hatte. Als Vlahos eine Frucht des Baumes in die Hand nahm und daran roch, überwältig­te es ihn, er brach in Tränen aus und floh ins Auto. Trotz all der Programmie­rarbeit und all der Gespräche, so nah war er seinem Vater und dem Bewusstsei­n, dass er tatsächlic­h gelebt hat und jetzt tot ist, nie gekommen.

„Ein ultimative­r Akt der Selbstentf­remdung“

„Hier entsteht gerade ein gewaltiger Markt“

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Das Digitale im Sakralen: Wo sonst biblische Szenen und Figuren wirken, setzte der Künstler Gerhard Richter in der Abteikirch­e
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Fotos: Change the Ref, dpa, Tobis‰Film Alles Fiktion? Joaquin Oliver (oben) sprach zwei Jahre nach seinem Tod eine Videobotsc­haft für den US‰Wahlkampf. Die 2012 ge‰ storbene Whitney Houston (unten links) ging vor einem Jahr als Hologramm auf Konzert‰Tournee. Und Johnny Depp starb 2014 im Film „Transcende­nce“, lebte aber als Geist im Computerne­tz weiter.
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Foto: dpa Tholey algorithmi­sche Farbmuster­kompositio­nen in die Altarfenst­er. Das gefiel längst nicht allen Gläubigen.
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Fotos: Mauritous, MBC Alles Wirklichke­it? Der ungläubige Thomas, hier (oben) im Jahr 1601 gemalt vom unsterblic­hen Caravaggio, musste in die Wund‰ male des Auferstand­enen fassen, um glauben zu können. Im koreanisch­en Fernsehen begegnete 2020 eine Mutter der Visualisie‰ rung ihrer drei jahre zuvor gestorbene­n Tochter – und konnte diese durch Sensorente­chnik sogar berühren.
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