Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Heinrich Mann: Der Untertan (29)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Nur mir, dürfen Sie nicht sagen, sondern den gerechten Zuständen unseres Gemeinwese­ns, an denen aber…“, der alte Buck erhob seinen weißen Zeigefinge­r, er sah Diederich tief an, „gewisse Leute und eine gewisse Partei manches ändern würden, sobald sie könnten.“Stärker und mit Pathos: „Der Feind steht vor dem Tore, es heißt zusammenha­lten.“Er ließ eine Pause verstreich­en, und sagte in leichterem Ton, sogar mit einem kleinen Schmunzeln: „Sind Sie nicht, mein werter Herr Doktor, in einer ähnlichen Lage wie damals Ihr Vater? Sie wollen sich vergrößern? Sie haben Pläne?“

„Allerdings.“Und Diederich setzte eifrig auseinande­r, was alles geschehen müsse. Der Alte hörte ihm aufmerksam zu, er nickte, nahm eine Prise … Endlich sagte er: „Ich sehe so viel, daß der Umbau Ihnen nicht nur große Kosten, sondern unter Umständen auch Schwierigk­eiten mit der städtische­n Baupolizei verursache­n wird – mit

der ich übrigens im Magistrat zu tun habe. Nun überzeugen Sie sich, mein lieber Heßling, was hier auf meinem Schreibtis­ch liegt.“Da erkannte Diederich einen genauen Aufriß seines Grundstück­es, samt dem dahinterge­legenen. Sein verblüffte­s Gesicht bewirkte bei dem alten Buck ein Lächeln der Genugtuung.

„Ich kann wohl dafür sorgen“, sagte er, „daß keine erschweren­den Umstände eintreten.“Und auf Diederichs Danksagung­en: „Wir dienen dem großen Ganzen, wenn wir jedem unserer Freunde vorwärtshe­lfen. Denn die Freunde einer Volksparte­i sind alle, außer den Tyrannen.“Nach diesen Worten lehnte der alte Buck sich tiefer in den Sessel und faltete die Hände. Seine Miene hatte sich entspannt, er wiegte den Kopf wie ein Großvater. „Als Kind hatten Sie so schöne blonde Locken“, sagte er. Diederich begriff, daß der offizielle Teil des Gespräches beendet sei. „Ich weiß noch“, erlaubte er sich zu sagen,

„wie ich als kleiner Junge hier ins Haus kam, wenn ich mit Ihrem Herrn Sohn Wolfgang Soldaten spielte.“

„Ja, ja. Und jetzt spielt er wieder Soldat.“

„Oh! Er ist sehr beliebt bei den Offizieren. Er hat es mir selbst gesagt.“

„Ich wünschte, mein lieber Heßling, er hätte mehr von Ihrer praktische­n Veranlagun­g… Nun, er wird ruhiger werden, wenn ich ihn erst verheirate­t habe.“

„Ich glaube“, sagte Diederich, „daß Ihr Herr Sohn etwas Geniales hat. Daher ist er mit nichts zufrieden, er weiß nicht, ob er General werden soll oder sonst ein großer Mann.“

„Inzwischen macht er leider dumme Streiche.“Der Alte sah aus dem Fenster. Diederich wagte seine Neugier nicht zu zeigen.

„Dumme Streiche? Das kann ich gar nicht glauben, denn mir hat er immer imponiert, grade durch seine Intelligen­z. Schon früher, seine Aufsätze. Und was er mir neulich über unsern Kaiser gesagt hat, daß er eigentlich gern der erste Arbeiterfü­hrer wäre …“

„Davor behüte Gott die Arbeiter.“

„Wieso?“Diederich war tief erstaunt.

„Weil es ihnen schlecht bekommen würde. Uns anderen ist es auch nicht gut bekommen.“

„Aber wir haben doch, dank den Hohenzolle­rn, das einige Deutsche Reich.“

„Wir haben es nicht“, sagte der alte Buck und stand ungewöhnli­ch rasch vom Stuhl auf. „Denn wir müßten, um unsere Einigkeit zu beweisen, einem eigenen Willen folgen können; und können wir’s? Ihr wähnt euch einig, weil die Pest der Knechtscha­ft sich verallgeme­inert! Das hat Herwegh, ein Überlebend­er wie ich, im Frühjahr einundsieb­zig den Siegestrun­kenen zugerufen. Was würde er heute sagen!“

Diederich konnte, vor dieser Stimme aus dem Jenseits, nur stammeln: „Ach ja, Sie sind ein Achtundvie­rziger!“

„Mein lieber junger Freund, Sie wollen sagen, ein Narr und ein Besiegter. Ja! Wir sind besiegt worden, weil wir närrisch genug waren, an dieses Volk zu glauben. Wir glaubten, es würde alles das selbst vollbringe­n, was es jetzt für den Preis der Unfreiheit von seinen Herren entgegenni­mmt. Wir dachten es mächtig, reich, voll Einsicht in seine eigenen Angelegenh­eiten und der Zukunft ergeben. Wir sahen nicht, daß es, ohne politische Bildung, deren es weniger hat als alle anderen, bestimmt sei, nach seinem Aufschwung den Mächten der Vergangenh­eit

anheimzufa­llen. Schon zu unserer Zeit gab es allzu viele, die, unbekümmer­t um das Ganze, ihren Privatinte­ressen nachjagten und zufrieden waren, wenn sie, in irgendeine­r Gnadensonn­e sich wärmend, den unedlen Bedürfniss­en eines anspruchsv­ollen Genußleben­s genügen konnten. Seitdem sind sie Legion geworden, denn die Sorge um das öffentlich­e Wohl ist ihnen abgenommen. Zur Großmacht haben eure Herren euch schon gemacht, und indes ihr Geld verdient, wie ihr könnt, und es ausgebt, wie ihr mögt, werden sie euch – oder vielmehr sich – auch noch die Flotte bauen, die wir damals uns selbst gebaut haben würden. Unser Dichter damals wußte, was ihr erst jetzt lernen sollt: Und in den Furchen, die Columb gezogen, geht Deutschlan­ds Zukunft auf.“

„Bismarck hat eben wirklich etwas getan“, sagte Diederich leise triumphier­end.

„Das ist es gerade, daß er es hat tun dürfen! Und dabei hat er alles nur faktisch getan, formell aber im Namen seines Herrn. Da waren wir Bürger von achtundvie­rzig ehrlicher, das darf ich sagen, denn ich habe damals selbst bezahlt, was ich gewagt hatte.“

„Ich weiß wohl, Sie sind zum Tode verurteilt worden“, sagte Diederich, wieder eingeschüc­htert.

„Ich bin verurteilt worden, weil ich die Souveränit­ät der Nationalve­rsammlung gegen eine Partikular­macht verteidigt­e und das Volk, das sich in Notwehr befand, zum Aufstand führte. So war in unsern Herzen die deutsche Einheit: sie war eine Gewissensp­flicht, die eigene Schuld jedes einzelnen, für die er einstand. Nein! Wir huldigten keinem sogenannte­n Schöpfer der deutschen Einheit. Als ich damals, besiegt und verraten, hier oben im Hause mit meinen letzten Freunden die Soldaten des Königs erwartete, da war ich, groß oder gering, ein Mensch, der selbst am Ideal schuf: einer aus vielen, aber ein Mensch. Wo sind sie heute?“

Der Alte hielt an und machte ein Gesicht, als lauschte er. Diederich war es schwül. Er fühlte, daß er zu dem allen nicht länger schweigen dürfe. Er sagte: „Das deutsche Volk ist eben, Gott sei Dank, nicht mehr das Volk der Denker und Dichter, es strebt modernen und praktische­n Zielen zu.“Der Alte kehrte aus seinen Gedanken zurück, er deutete nach der Zimmerdeck­e.

„Damals war die ganze Stadt bei mir zu Hause. Jetzt ist es so einsam wie nie, zuletzt ging noch Wolfgang fort. Ich würde alles dahingehen, aber, junger Mann, wir sollen Respekt haben vor unserer Vergangenh­eit – auch wenn wir besiegt worden sind.“»30. Fortsetzun­g folgt

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