Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Pandemien halten uns den Spiegel vor“

Katja Gloger und Georg Mascolo zeichnen in ihrem Buch die Corona-Krise detailgetr­eu nach. Herausgeko­mmen ist ein echter politische­r Thriller. Welche Erkenntnis­se sie daraus mitnehmen

- Interview: Margit Hufnagel

Frau Gloger, Herr Mascolo, wenn Sie auf dieses Jahr der Pandemie blicken: Ist die Geschichte von Corona eine Geschichte des politische­n Versagens, gepaart mit Naivität? Georg Mascolo: Leider wurde das Risiko einer Pandemie seit langer Zeit verdrängt. All die Analysen, die beschriebe­n, was passieren kann, wenn uns eine Pandemie heimsucht, waren sehr präzise. Doch im Vergleich zu anderen Bedrohunge­n, auf die wir uns versuchen vorzuberei­ten – da ist etwa die Gefahr von Terrorismu­s oder militärisc­her Konflikte –, sind wir nicht einmal in der Lage gewesen, für das zu sorgen, was in jedem Pandemiepl­an steht: Lagere eine Erstaussta­ttung von Schutzmask­en ein. Das ist, als ob man vergessen hätte, der Feuerwehr einen Schlauch zu kaufen. Leider haben sich die falschen Entscheidu­ngen fortgesetz­t. Die falscheste Entscheidu­ng, die in Deutschlan­d getroffen wurde, war wahrschein­lich, dass wir den Moment des Aufatmens nach dem Frühjahr so verstanden haben, als hätten wir das Schlimmste schon hinter uns. Besser wäre es gewesen, diese Atempause zu nutzen, um uns auf die zweite Welle vorzuberei­ten. Wir wussten, sie würde kommen.

Katja Gloger: Pandemie-Experten sprechen von dem Zyklus aus Panik und Verdrängen. Auch die Ebola-Krise 2014 und 2015 in Westafrika hätte sich zu einer Pandemie ausweiten können. Damals war die Weltgemein­schaft alarmiert und schaffte es in einer beispiello­sen internatio­nalen Zusammenar­beit, diese Epidemie einzudämme­n. Barack Obama schickte das Militär, Angela Merkel ernannte einen Ebola-Sonderbeau­ftragten. Und dann wurde das Thema „Pandemie“doch schnell wieder verdrängt. Und das, obwohl gerade Angela Merkel das Thema „Global Health“, globale Gesundheit, eigens auf die Agenda beim G7- und beim G20-Gipfel gesetzt hatte. Damals glaubten viele Regierungs­chefs, es gebe wichtigere Themen. Aber Merkel setzte durch, dass sich zum ersten Mal die Gesundheit­sminister aller G20Staaten zu einer Pandemie-Übung in Berlin trafen. Man hatte das Thema also durchaus auf dem Zettel – aber dann verschwand es doch wieder. Wohl auch, weil so viele andere Probleme drängender erschienen.

Wie kann das sein, dass ausgerechn­et Deutschlan­d so ins Straucheln geraten ist? Mascolo: Im vergangene­n Jahr schrieben spanische Zeitungen vom „deutschen

Wunder“. Die Amerikaner, die Briten – alle haben mit einer gewissen Bewunderun­g auf uns geschaut. Auch, weil es einen engen Schultersc­hluss zwischen Politik und Bevölkerun­g gab. Dann kam eine Zeit mangelnder Entschloss­enheit; da spielen natürlich die gesetzlich­en Grundlagen, mit denen wir es zu tun haben, eine Rolle. Die wichtigste Währung in der Pandemie ist die Zeit – man muss immer schnell handeln, dem Virus möglichst einen Schritt voraus sein. Aber wenn alle Entscheidu­ngen abgestimmt werden zwischen 16 Bundesländ­ern und dem Bund, dann ist der berüchtigt­e kleinste gemeinsame Nenner bisweilen das beste zu erzielende Ergebnis. In einem Sommer der Sorglosigk­eit waren wir nicht mehr aufmerksam genug, und wir waren in der Vorbereitu­ng auf Herbst und Winter nicht mehr gut genug. Das betrifft etwa die Frage nach der Digitalisi­erung und einer funktionie­renden Corona-Warn-App, die Frage nach einem funktionie­renden Schulunter­richt, die nach schnellen Tests und genügend Impfstoffe­n. In dieser zweiten Phase der Pandemie ging viel mehr schief, als so ein Virus verzeiht.

Gloger: Pandemien sind unbestechl­iche Lehrmeiste­r, weil sie den Gesellscha­ften erbarmungs­los den Spiegel vorhalten. Es werden alle Stärken, aber auch alle Schwächen und strukturel­le Probleme sichtbar. Man sieht plötzlich auch, welche Folgen Entscheidu­ngen haben, die nicht getroffen wurden. Mit diesen strukturel­len Problemen – neben dem bekannten Trauerspie­l der Digitalisi­erung ist das aber auch Über-Bürokratis­ierung, Über-Absicherun­g, mangelnde Flexibilit­ät – werden wir uns beschäftig­en müssen. Hinzu kommt, dass wir zu spät begonnen haben, von den Erfolgen anderer zu lernen. Die demokratis­chen ostasiatis­chen Staaten etwa waren aufgrund ihrer Erfahrung mit SARS im Jahr 2003 anders vorbereite­t, sie haben schnell und konsequent ihre Mechanisme­n aktiviert. Für sie war es selbstvers­tändlich, den Bürgern sofort zu empfehlen, Masken zu tragen – während wir in Europa, aber leider auch bei der WHO, erst wochenlang debattiert haben.

Steht uns in einer Krise, die uns mit solcher Wucht trifft, das föderale System im Weg? Mascolo: Ich bin nicht sicher, ob das föderale System aus sich heraus ein Nachteil ist. Wir erleben ja auf der anderen Seite, dass hohe Eigenveran­twortlichk­eit und gute Organisati­on in Kommunen ein großer Vorteil sein kann. Die Frage ist, wie man einen gesamtstaa­tlichen Prozess organisier­t, indem man nicht vergisst, dass Geschwindi­gkeit das Wichtigste ist. Das ist auch in einem zentralist­ischen System wie etwa Frankreich nicht garantiert. Die entscheide­nde Frage ist also nicht: Zentralsta­at oder Föderalism­us? Die entscheide­nde Frage ist: Ist man bereit zu schnellen und konsequent­en Entscheidu­ngen? Dann kann Föderalism­us ein Vorteil sein, weil er näher an den Menschen ist.

Gloger: Spätestens ab dem Sommer war es auch eine Frage der Prioritäte­nsetzung. Weil es am Ende ja nur einen Weg aus dieser Pandemie gibt, nämlich Impfstoffe, hätte man sich wohl früher und schneller um die entscheide­nden Schritte kümmern müssen. Wir hätten Produktion­skapazität­en aufbauen müssen. Inzwischen haben wir einen Beauftragt­en für Impfstoffe. Aber warum erst jetzt? Stattdesse­n hat man sich im KleinKlein verheddert, in unterschie­dlichen Interessen. Natürlich stehen hinter jeder Diskussion Menschen und ihre Schicksale: Kinder, die nicht in die Schule gehen können. Gaststätte­nbesitzer, die nicht aufmachen können. Ich will das nicht abtun. Aber weil man es irgendwie doch allen recht machen wollte, hat man sich oft so verkämpft, so viel Kraft eingesetzt, dass man die großen Schritte nicht gegangen ist: ausreichen­d Impfstoffe zu organisier­en und früh, also präventiv, Testkonzep­te zu erarbeiten. Das muss eine Lehre sein.

Laufen wir gerade sehenden Auges in die nächste Katastroph­e?

Mascolo: Ganz so pessimisti­sch will ich nicht sein. Es ist aber niederschm­etternd genug, dass wir ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie schon wieder in der gleichen Unsicherhe­it gefangen sind, die uns schon Ostern 2020 begleitet hat. Das Testen wird das Leben hoffentlic­h ein wenig erträglich­er machen. Die sogenannte­n nicht-pharmazeut­ischen Maßnahmen sind ja ohnehin immer eine kleine Kapitulati­on: Uns fällt nichts anderes ein als die Aufforderu­ng, zu Hause zu bleiben, sich zurückzuzi­ehen. Das ist ein Mittel der Seuchenbek­ämpfung, das es schon seit hunderten Jahren gibt. Wir haben nur einen echten Weg heraus aus der Pandemie – das sind die Impfstoffe. Die Wissenscha­ft hat in Rekordzeit Impfstoffe entwickelt. Der Staat hat leider seinen Teil nicht ausreichen­d eingelöst, vor allem, weil er nicht für genügend Produktion­skapazität­en gesorgt hat. Nur das Impfen kann uns aus dieser Katastroph­e herausführ­en. Zumindest dann, wenn wir daran denken, dass auch der Rest der Welt genug Impfstoff hat. Denn der vielleicht schwerste Fehler, den wir noch machen können, wäre, die eigene Bevölkerun­g schnell durchzuimp­fen und dann zusehen zu müssen, wie mutierte Viren von anderen Teilen der Welt zu uns zurückkomm­en. Und dann beginnt alles von vorne. Impfstoffe für die Welt sind nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine medizinisc­he Notwendigk­eit.

Gloger: Allerdings sind wir in einer prekäreren Situation als noch vor einem Jahr. Die Angst vor diesem unbekannte­n Virus, mit dem noch nicht einmal Mediziner umgehen konnten, hat für eine große Disziplin und auch Solidaritä­t gesorgt. Das Vertrauen in den Staat war groß. Doch dieser Vertrauens­vorschuss ist über den Winter zu einem großen Stück verloren gegangen. Die hohe Kunst wird es für uns alle sein – für die Gesellscha­ft, nicht nur für die Kanzlerin –, sich pragmatisc­h und mit einer gewissen Flexibilit­ät zusammenzu­reißen, um die nächsten Monate zu überstehen, damit das Virus nicht außer Kontrolle gerät. Die Zahlen sind besorgnise­rregend. Wir müssen den gesunden Menschenve­rstand einsetzen.

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Foto: Hans‰Jürgen Burkard Katja Gloger und Georg Mascolo arbeiten als investigat­ive Journalis‰ ten; sie sind verheirate­t.
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