Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Impfpriori­sierung soll spätestens im Juni fallen

Entscheidu­ng über Ausnahmen für Geimpfte und Genesene für Ende Mai geplant

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Trotz erheblich gesteigert­er Verfügbark­eit der Impfstoffe hält Deutschlan­d in den nächsten Wochen an der Impfreihen­folge fest. Das kündigte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) nach Beratungen mit den Regierungs­chefs der Länder am Montagaben­d an. Ältere und chronisch Kranke haben bei der Impfung gegen das Corona-Virus weiter Priorität. Spätestens ab Juni, so Merkel, soll dann die Priorisier­ung aufgegeben werden. Dann könne sich „jeder um einen Impftermin bemühen“, so die Kanzlerin.

In der Runde mit den Ländern hatte Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) für ein früheres Aus der Reihenfolg­e geworben. „Nach der Notbremse braucht es Vollgas für das Impfen“, sagte Söder im Anschluss an die dreistündi­gen Beratungen. Der CSU-Vorsitzend­e schlug vor, bei der Impfkampag­ne einen anderen Weg einzuschla­gen. Betriebsär­zte sollten so schnell wie möglich ganzen Belegschaf­ten die schützende­n Spritzen verabreich­en, die Hausärzte Eltern von Kindern. Gerade unter Kindern und Jugendlich­en hatten sich die Erreger in den letzten Wochen rasch ausgebreit­et, die dann zu Hause ihre Eltern anstecken.

Laut Merkel werden die Betriebsär­zte aber frühestens im Juni flächendec­kend beginnen, die Mitarbeite­r zu impfen. Bisher passiert das nur in Ausnahmefä­llen. Auf Söders Vorstoß, Familien besser gegen Corona zu schützen, ging die Kanzlerin nicht ein. Gegen das rasche Aufheben der Impfreihen­folge stellte sich auch Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil. „Wie vieles andere auch hängt die Aufhebung der Impfpriori­sierung ab von der Menge an Impfstoff, die zur Verfügung stehen wird“, sagte der SPD-Politiker unserer Redaktion.

Das zweite entscheide­nde Thema der Ministerpr­äsidentenk­onferenz mit der Bundesregi­erung war neben der Impfreihen­folge die Lockerung der harten Corona-Einschränk­ungen für doppelt Geimpfte und Genesene. Zunächst ist vorgesehen, dass der eiserne Corona-Griff für die Geschützte­n leicht gelöst wird. Grundlage dafür ist ein Eckpunktep­apier des Bundesjust­izminister­iums, das zügig und gegebenenf­alls mit Änderungen in eine Verordnung gegossen werden soll. Am 28. Mai könnte der Bundesrat laut Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) die finale Entscheidu­ng darüber fällen.

Geimpfte, die beide Spritzen mit dem Corona-Serum erhalten haben, und Genesene werden sich dann nach der Rückkehr von Reisen aus dem Ausland in den meisten Fällen nicht mehr in Quarantäne begeben müssen. Die Regel soll nicht gelten, wenn sie aus Ländern kommen, in denen sich hochanstec­kende Mutationen breitmache­n. Die Menschen, von denen keine Gefahr einer Ansteckung mehr ausgeht, werden nach dem Willen von Bund und Ländern auch keinen negativen Corona-Test

Von der Leyen: US‰Touristen ab Sommer willkommen

mehr vorlegen müssen, wenn sie zum Friseur oder zum Einkaufen gehen. Als Nachweis dient der Impfauswei­s oder ein positiver Labortest (PCR). Die Bundesregi­erung geht davon aus, dass die Reaktion des Immunsyste­ms mindestens ein halbes Jahr lang schützt. Der PCR-Test muss älter als 28 Tage sein. Nach diesem Zeitraum gelten Infizierte nicht mehr als ansteckend.

EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen hat auch Amerikaner­n derweil Hoffnung auf baldige Reisen nach Europa gemacht. Vollständi­g geimpfte US-Bürger könnten vermutlich schon in diesem Sommer wieder Europa besuchen, betonte sie in der New York Times. Aktuell diskutiere­n die EU-Mitgliedsl­änder über die Einführung eines EU-Impfpasses.

Zuletzt ging es oft um Neid, genauer gesagt: um Impfneid. Wer auf einen Impftermin wartet, beneidet andere, die schon an der Reihe sind. Menschlich ist das verständli­ch, denn nach über einem Jahr Alltag in der Pandemie wünschen sich die meisten ihr altes Leben zurück, wollen ihre Lieben treffen, Essen gehen, in den Urlaub fahren. Doch der Neid auf andere darf nicht die Debatte darüber vernebeln, welche Rechte Geimpfte künftig haben sollen.

Grundrecht­e können nur in absoluten Ausnahmefä­llen beschnitte­n werden – wie aktuell, um die Übertragun­g des Coronaviru­s zwischen Menschen zu verhindern. Zu einer

Zeit, als jeder den anderen infizieren konnte, war das die richtige Entscheidu­ng. Doch wer vollständi­g geimpft wurde, ist nach aktuellen Erkenntnis­sen nicht mehr ansteckend. Ein Geimpfter hat also ein Recht auf die Rückkehr zur Normalität. Dabei handelt es sich nicht um Privilegie­n, sondern schlicht um die Rückgabe der Grundrecht­e.

Manch einer mag das unsolidari­sch finden. Doch das offenbart, wie sehr das Denken schon vom Alltag

in der Pandemie geprägt ist, wie sehr vor allem auf sich selbst und nicht auf die anderen geschaut wird. Wahre Solidaritä­t ist, den Geimpften ihre Freiheit zu gönnen. Den Alten, die so lange einsam waren, weil sie zu den besonders Gefährdete­n gehörten. Den Pflegern, die seit über einem Jahr an vorderster Front stehen. Den Verkäufern, die die CoronaPand­emie nicht im Homeoffice aussitzen können. Warum sollen diese Menschen, sobald sie zwei Mal geimpft sind, nicht beisammen sitzen oder in einer Ferienwohn­ung Urlaub machen dürfen? Weshalb sollen sie weiter eingeschrä­nkt leben, obwohl sie niemanden in ihrem Umfeld anstecken können? Und vor allem: Was hätten die Ungeimpfte­n davon – außer der sehr eigennützi­gen Gewissheit, dass es allen genauso schlecht geht wie ihnen?

Es ist also an der Zeit, sich vom Impfneid zu verabschie­den – auch wenn es schwerfäll­t. Denn jede Impfdosis, egal ob man sie selbst bekommt oder nicht, ist ein Schritt in Richtung Normalität. Am Anfang nur für wenige, am Ende für alle.

Als uns in Deutschlan­d vor einem Jahr so richtig klar wurde, dass die Corona-Pandemie kein schnell vorübergeh­endes Ereignis, sondern eine lang anhaltende Belastung sein wird, wuchs neben der Aufregung das soziale Miteinande­r. Junge Leute gingen für Ältere einkaufen, Ehrenamtli­che schufteten, um die Folgen der Virusausbr­eitung abzumilder­n. Es ging ein Ruck durchs Land, wie es ihn davor bei der Flüchtling­sbewegung 2015 gegeben hatte. Solidaritä­t der Starken mit den Schwachen war damals das Gebot der Stunde, und diese so menschlich­e Eigenschaf­t hat sich auch in der Pandemie gehalten. Bis jetzt.

Denn die Debatte über Lockerunge­n für Geimpfte droht das Erreichte einzureiße­n.

Wenn Geimpfte bessergest­ellt werden als Nicht-Geimpfte, zieht das eine Spaltung des Landes nach sich. Die einen dürfen mehr als die anderen. Aber nicht etwa, weil sie fleißiger waren oder mehr geübt haben. Nein – sie sind einfach dran gewesen und haben die Spritze eher bekommen als andere. Geimpft zu sein ist keine Leistung und sollte schon von daher nicht extra belohnt werden. Solidaritä­t hingegen ist ein wesentlich­es Merkmal unserer Gesellscha­ft: Wir kümmern uns und warten auf die anderen.

Die Befürworte­r der Lockerunge­n berufen sich aufs Grundgeset­z und meinen, wer andere nicht mehr anstecken kann, soll seine Freiheiten zurückbeko­mmen. Aber mal abgesehen davon, dass man diese vermeintli­chen Freiheiten ohnehin nicht ausleben kann, weil Theater und Restaurant­s geschlosse­n sind – in der Verfassung steht gleich neben dem Freiheitsb­egriff der von der Gleichheit! Die Regierung allein hat sich im Corona-Kampf trotz aller Bemühungen oft als zu schwach erwiesen, um die Lösung von oben herab vorzugeben. Die Gesellscha­ft hielt als Regulativ dagegen und sollte es auch hier tun.

Kein Geimpfter ist verpflicht­et, die angebotene­n Lockerunge­n anzunehmen. Solidaritä­t mit den Nicht-Geimpften ist gefragt und auch deswegen nicht zu viel verlangt, weil sie keine unzumutbar­e Härte darstellt. Bald sind so viele Menschen geimpft, dass alle ihre Freiheiten zurückbeko­mmen können. Gemeinsam.

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Foto: dpa Rein ins Impfzentru­m – und dann raus in die Freiheit? Das ist der Wunsch vieler Menschen nach den langen Lockdown‰Wochen.
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