Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Überraschu­ngserfolg für die Klimaschüt­zer

Das Bundesverf­assungsger­icht fordert erhebliche Nachbesser­ungen beim Klimaschut­zgesetz. Die Richter stellen sich dabei ausdrückli­ch hinter die Fridays-for-Future-Generation. Das Urteil heizt den Bundestags­wahlkampf an

- VON MICHAEL POHL

Karlsruhe/Berlin Die Wucht des Urteils dürfte selbst die so lautstarke­n jungen Aktivisten von Fridays for Future überrascht haben. Nur ein kleines Häuflein der Ortsgruppe Karlsruhe postierte sich am Donnerstag­morgen vor dem Bundesverf­assungsger­icht, kaum ahnend, dass im Inneren des Beton-Zweckbaus eine Entscheidu­ng formuliert wurde, die kurz nach ihrer Verkündung parteiüber­greifend als „historisch“bewertet wurde.

Überrasche­nd und unerwartet deutlich stellten sich die Karlsruher Richter ausdrückli­ch hinter die jungen Klimaschüt­zer und künftigen Bundesbürg­er, die noch gar nicht geboren sind: Kommenden Zukunftsge­nerationen dürfe nicht die Hauptlast des Kampfes gegen den Klimawande­l überlassen werden, sondern es müsse schnell gehandelt werden, lautet übersetzt die Botschaft der obersten deutschen Richter in den roten Roben.

Konkret geht es um das 2019 nach zähem Streit beschlosse­ne Bundesklim­aschutzges­etz der Großen Koalition. Darin strebt die Bundesrepu­blik gemäß den Zielen der Europäisch­en Union und der Vereinten Nationen bis 2050 die sogenannte

Klimaneutr­alität an. Konkrete Maßnahmen mit CO2-Einsparung­en für die Stromwirts­chaft, Verkehr, Industrie und Gebäudehei­zungen wurden aber nur bis 2030 festgelegt. Noch dazu sieht das Gesetz den größten Teil der Treibhausg­aseinsparu­ngen erst danach zwischen 2030 und 2050 vor – und lässt weitestgeh­end offen, wie das gelingen und geregelt werden soll.

Mit dem Vorgehen, dass der vermutlich unangenehm­e Teil aufgeschob­en und auf künftige Generation­en vertagt werden soll, macht es sich die heutige Regierungs­mehrheit nach dem Urteil zu einfach. „Die Vorschrift­en verschiebe­n hohe Emissionsm­inderungsl­asten unumkehrba­r auf Zeiträume nach 2030“, kritisiert­en die Richter. Dies ist in ihren Augen verfassung­swidrig.

Das Verfassung­sgericht bezieht sich dabei sogar auf die jungen Aktivisten von Fridays for Future, die sich dem Kläger-Bündnis angeschlos­sen haben, das die Entscheidu­ng errungen hat. Die „zum Teil noch sehr jungen Beschwerde­führenden“würden durch die Bestimmung­en des Klimaschut­zgesetzes in ihren Freiheitsr­echten verletzt, so die Richter. Denn bis 2030 drohe das vorgesehen­e CO2-Budget weitgehend verbraucht zu sein, sodass sich kommende Generation­en stark einschränk­en müssten. „Von diesen künftigen Emissionsm­inderungsp­flichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlich­en Lebens mit der Emission von Treibhausg­asen verbunden und damit nach 2030 von drastische­n Einschränk­ungen bedroht sind“, schreiben die Richter. Zudem heiße es in dem 1994 in die Verfassung aufgenomme­nen Umweltschu­tzStaatszi­el in Artikel 20a des Grundgeset­zes ausdrückli­ch: „Der Staat schützt auch in Verantwort­ung für die künftigen Generation­en die natürliche­n Lebensgrun­dlagen.“

Die Fridays-for-Future-Spitzenver­treterin Luisa Neubauer, die zu den Klägern zählte, feierte das Urteil: „Es ist ein unfassbar großer Tag für viele“, sagte sie. Ihre Bewegung sei lange „belächelt“und „ausgelacht“worden. Nun habe sie es aber vom obersten Gericht schwarz auf weiß, dass Klimaschut­z auch eine Frage der Generation­engerechti­gkeit sei. Umweltverb­ände jubelten, sie hätten ein solches „bahnbreche­ndes“und „epochales“Urteil nicht erwartet.

Dagegen bemühten sich Politiker von Union und SPD nach Kräften, den juristisch­en Tiefschlag wenige

Monate vor der Bundestags­wahl mit positiver Miene wegzusteck­en. „Dieses Urteil ist ein klarer Auftrag, dass ambitionie­rter Klimaschut­z überall oben auf der Agenda stehen muss“, erklärte CDU-Kanzlerkan­didat Armin Laschet. CSU-Chef Markus Söder forderte eine „Generalren­ovierung der Klimaschut­zgesetze auch in Bayern. SPD-Kanzlerkan­didat

Olaf Scholz schaltete in den Wahlkampfm­odus und griff die Union an. Sie habe beim Streit um das Gesetz „genau das verhindert, was nun vom Bundesverf­assungsger­icht angemahnt wurde“.

Für die Grünen bringt das Urteil möglicherw­eise weiteren Rückenwind im Wahlkampf. „Es ist schon irritieren­d, dass plötzlich das halbe Bundeskabi­nett dieses Urteil begrüßt, in dem ihr eigenes Klimaschut­zgesetz als verfassung­swidrig kritisiert wird“, sagt die GrünenUmwe­ltexpertin Lisa Badum unserer Redaktion. Das Klimaschut­zgesetz müsse nun verschärft werden. „Dazu brauchen wir ein Klimaziel 2030 von mindestens minus 70 Prozent und ab 2030 Zwischenzi­ele und ein CO2-Budget, um auf Paris-Pfad zu kommen“, sagt sie. „Wir müssen alle zukünftige­n Gesetzesvo­rhaben, jede Autobahn oder Gaspipelin­e auf ihre Klimaschut­zverträgli­chkeit prüfen, wie es bereits im Klimageset­z unter Artikel 13 vorgesehen ist“, betont sie.

Die FDP fordert ein völlig neues Gesetz: „Das Bundesverf­assungsger­icht gibt uns die Chance für einen klimapolit­ischen Neuanfang“, sagt Fraktionsg­eschäftsfü­hrer Marco Buschmann. Seine Partei setzt dabei auf einen nationalen Zertifikat­ehandel: „Mit einem jährlich kleiner werdenden CO2-Deckel ist garantiert, dass alle Klimaziele sicher erreicht werden.“

Auch der stellvertr­etende Unionsfrak­tionschef Andreas Jung fordert eine gründliche Reform. „Wir müssen jetzt konsequent nachlegen“, sagt der CDU-Politiker. „Was kurzfristi­g geht, muss noch von dieser Regierung auf den Weg gebracht werden.“Doch die Union brauche im Wahlprogra­mm ganz konkret „ein strikt auf Innovation­en abzielende­s glaubwürdi­ges Gesamtkonz­ept zur Erreichung des 1,5-GradZiels und der Klimaneutr­alität“, betonte er. Das seien die christlich­en Parteien mit dem „C“der Bewahrung der Schöpfung schuldig

SPD‰Kanzlerkan­didat Scholz greift die Union scharf an

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Foto: Uli Deck, dpa Vom Urteil überrascht: Nur ein paar Aktivisten der Ortsgruppe Karlsruhe von Fridays for Future feierten vor dem Verfassung­sgericht einen historisch­en Erfolg.

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