Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie weit trägt das Hoch Annalena die Grünen?

Kanzleramt oder Absturz – für die Ökopartei-Kandidatin Baerbock ist jetzt alles möglich, glaubt der Wahlforsch­er Matthias Jung. Das liege auch am Elend und der Zerstritte­nheit der Konkurrenz bei Union und SPD

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Schweben die Grünen im Umfrage-Aufwind mit Annalena Baerbock direkt ins Kanzleramt? Oder folgt dem Höhenflug ein jäher Absturz? Für Matthias Jung, Leiter der Forschungs­gruppe Wahlen, ist die Lage vor dem Urnengang im September historisch einmalig. „Die Amtsinhabe­rin tritt nicht mehr an. Erstmals gibt es nur neue Kandidaten, keiner hat einen Amtsbonus, die Chancen sind viel gleichmäßi­ger verteilt“, sagte er unserer Redaktion. Eine grüne Kandidatin mit Aussichten, Angela Merkel von der CDU nachzufolg­en – das sorge in der medialen Öffentlich­keit für den „Hype des Neuen“. So dränge sich der Vergleich mit dem Wirbel vor vier Jahren um den sogenannte­n „Schulz-Zug“auf. „Der schnelle Aufstieg des SPD-Kandidaten in den Umfragen und sein tiefer Fall bei der Wahl 2017 zeigen, wie kurzlebig solche Stimmungen sein können“, sagte Jung.

Kaum zwei Wochen ist es her, dass die Grünen verkündet haben, dass sie Annalena Baerbock ins Rennen um das Bundeskanz­leramt schicken. Seither klettern die Umfragewer­te nach oben. Das Institut Forsa sieht die Grünen aktuell bei 28 Prozent

der Wählerguns­t – satte sechs Prozentpun­kte vor der lange führenden Union. Auch in anderen Umfragen geht es für CDU und CSU, die sich nach hartem Ringen auf Armin Laschet als Spitzenbew­erber geeinigt haben, bergab. Die SPD mit Olaf Scholz als Spitzenkan­didat fällt immer weiter zurück – auf Werte um die 13 Prozent.

Für Matthias Jung sind die Sozialdemo­kraten und Scholz „in diesem Rennen nur Außenseite­r“. Die Partei stecke seit vielen Jahren in der Dauerkrise, habe sich alle Mühe gegeben, Scholz maximal zu beschädige­n, als sie ihn als Parteichef ablehnte. Scholz sei zudem „alles andere als eine charismati­sche Persönlich­keit“. Ein Pluspunkt sei seine Regierungs­erfahrung. „Aber das dürfte kaum reichen“, glaubt Jung.

Bisher habe die Union strukturel­l das höchste Wählerpote­nzial gehabt, sagte Jung. Doch ihr Kanzlerkan­didat Armin Laschet stehe „wahrlich nicht als strahlende­r Sieger der Entscheidu­ng um Vorsitz und Kanzlerkan­didat da“. Davon könne Baerbock profitiere­n – obwohl es in Wirklichke­it gar keine richtige Wechselsti­mmung gebe. Der Chef des Umfrage-Instituts: „Würde Angela Merkel noch einmal antreten, hätte sie beste Chancen. Markus Söder, der den engen Schultersc­hluss mit Merkel gesucht hat, wäre eher ein Garant für ein besseres Unionserge­bnis gewesen als Laschet.“Die Grundstimm­ung in der Mehrheit der Bevölkerun­g ist laut Jung, „dass irgendeine Kombinatio­n aus Schwarz und Grün das Richtige wäre“. Die Rahmenbedi­ngungen für die Grünen seien so gut wie nie: „Um 60 Prozent der Wähler können sich heute grundsätzl­ich vorstellen, ihre Stimme auch mal den Grünen zu geben. Eine Mehrheit der Bevölkerun­g will mehr Ökologie und Klimaschut­z.“

Ob die Grünen ihre guten Umfragewer­te bis zur Wahl halten können, vermag auch der Demoskop nicht vorauszusa­gen. „Die Halbwertsz­eit für politische Stimmungen ist sehr kurz geworden“, sagte er. Entspanne sich die Corona-Lage, würden die Karten neu gemischt. Jung: „Wenn die ökonomisch­e Situation kritisch wird, könnten die Menschen eher der Union vertrauen, ihr wird die Wirtschaft­skompetenz zugeschrie­ben. Kommt es dagegen zu einem heißen Sommer mit Dürren, dann wird der Klimawande­l wieder mehr in die Aufmerksam­keit rücken. Das wäre gut für die Grünen.“

Ein Nachteil für Annalena Baerbock ist laut Jung, dass viele Bundesbürg­er sie noch kaum kennen würden. Das treffe aber – außerhalb von Nordrhein-Westfalen – auch auf Armin Laschet zu. So werde es in den kommenden Wochen darum gehen, wem die Bürger am ehesten die Kanzler-Rolle zutrauen. Die Bürger würden sich etwa fragen, wer deutsche Interessen besser gegen Putin oder auch gegen Washington durchsetze­n kann. Die Grünen profitiere­n im Moment Jung zufolge davon, „dass sie in der Opposition unverbindl­ich bleiben können“. Im Unterschie­d zu früher verschreck­ten sie die bürgerlich­e Mitte heute aber nicht mehr mit Forderunge­n wie dem Veggie-Day oder Ähnlichem. Im grünen Wahlprogra­mm würden Zumutungen „moderat präsentier­t“. In der Corona-Krise sei der Kurs konstrukti­v. Es gebe zudem auch seit längerem keinen Streit untereinan­der mehr – anders als bei Union und SPD. Das komme an beim bürgerlich­en Publikum. Jungs Fazit: „Insofern kochen die Grünen heute auch mit einem früheren Erfolgsrez­ept der Union.“

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Grüne Kandidatin in Rot: Annalena Baerbock bringt fünf Monate vor der Bundestags‰ wahl im Herbst reichlich Bewegung in die Meinungsum­fragen.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Grüne Kandidatin in Rot: Annalena Baerbock bringt fünf Monate vor der Bundestags‰ wahl im Herbst reichlich Bewegung in die Meinungsum­fragen.

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