Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Geister der Vergangenh­eit

Im digitalen Format fördern Interviews mit Zeitzeugen eine eindringli­che Erinnerung

- VON ALOIS KNOLLER

Anita Lasker-Wallfisch spielte Cello, und das sollte ihr im Vernichtun­gslager Auschwitz das Leben retten. Immer wieder erzählte sie ihre dramatisch­e Lebensgesc­hichte, als erste deutschspr­achige Zeitzeugin auch in einem digitalen Format. Während sie über 1000 Interviewf­ragen beantworte­te, wurde sie von 21 Kameras aus vielen Blickwinke­ln aufgezeich­net. Als säße sie selbst im Raum, so wirkt die Aufnahme, und dank einer ausgeklüge­lten Steuerung kann man dieser Projektion Fragen stellen und erhält spontan wirkende Antworten. Ist das die neue Art von „Holocaust Education“, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind?

Christina Brüning, die an der Uni Leipzig und demnächst in Marburg Didaktik der Geschichte lehrt, hält einiges auf solche neuen Vermittlun­gsformen, wie sie auf Einladung der Erinnerung­swerkstatt Augsburg in einem Online-Vortrag darlegte. Sie entspreche­n den Kommunikat­ionsgewohn­heiten der jungen Generation. Einen Interviewf­ilm empfinden sie als langweilig und können sein Setting schwer einordnen („Der alte Mann auf dem Bildschirm“). Dagegen lässt eine multimedia­le, interaktiv­e Projektion eigenes Tun zu.

Für Didaktiker sei vor allem der dialogisch­e Moment daran spannend, erklärte Brüning. Durch die von den Schülern selbst formuliert­en Fragen an die Zeitzeugen entsteht ein individuel­ler Zugang, die im Lernen aus der Geschichte eine eigene Sinnbildun­g ermöglicht.

Freilich stecken in der Vermittlun­g auch Risiken. „Das ist eine sehr interessan­te Frage, aber leider bin ich das im Interview nicht gefragt worden“, lautet etwa die Antwort der 3-D-Projektion auf Leerstelle­n. In einer Studie ist Brüning dabei, die Treffergen­auigkeit mit geschickte­n Verknüpfun­gen zu verbessern. Wenig hilft dies jedoch gegen destruktiv­e, bösartige Fragen; hier seien die Präsentati­on und das damit verfolgte Lernziel sehr verletzlic­h. Auf die Situation kommt es an, ist Brüning überzeugt: „Es macht einen Unterschie­d, wo und wie die Lernenden die Zeitzeugen befragen, ob allein zu Hause am Schirm oder in der Gruppe im Klassenzim­mer.“

Leiden könnte auch die Imaginatio­n historisch­er Räume, wenn Augmented Reality dabei mitspielt. Nationalso­zialismus und Holocaust seien „sehr sensible Bereiche“. In Israel lösten die „Eva Stories“2019 einen Sturm der Entrüstung aus. Was hätte die aus Ungarn ins KZ verschlepp­te Eva Heimann der bildersatt­en Plattform Instagram statt ihres Tagebuchs anvertraut? Hier seien Grenzen überschrit­ten, die mediale Inszenieru­ng sei geschmackl­os und ohne Ziel, hieß es.

Sollte also doch besser der historisch­e Abstand gewahrt bleiben? Aussagekra­ft hat es allemal, heute noch die jungen Stimmen der KZ-Häftlinge direkt nach ihrer Befreiung zu hören, die bei ihrer Befragung um Worte für das Erlebte rangen. Material ist inzwischen in großer Menge zusammenge­tragen. Allein die von Steven Spielberg gegründete Shoah Foundation hat über 50000 Interviews mit Zeitzeugen in ihrem Visual History Archive.

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