Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Schweizer Freiheit
TitelThema Cafés dürfen draußen bewirten, Kinos und Theater haben geöffnet, sogar Fitnessstudios. Was in Deutschland mit der bundesweiten Notbremse undenkbar ist, läuft beim Nachbarn als landesweiter Praxistest. Wie fühlt sich das an? Ein Besuch im frühl
St. Gallen Auf den ersten Blick wirkt alles normal. Menschen gehen durch den Park, vorbei an Plakaten, die für Ausstellungen und Veranstaltungen werben. Im Park tummeln sich Jugendliche auf den Wiesen, die ältere Generation hat sich regelrechte Kreise aus den grünen Parkstühlen gebaut. Es ist ein herrlicher Frühlingstag in St. Gallen.
Aber es wird gleich noch „normaler“, zumindest nach dem Maßstab der Vor-Corona-Zeit.
Denn in der Stadt mit ihren 80000 Einwohnern unweit des Bodensees herrscht reger Betrieb, die Läden sind geöffnet, die Terrassen der Cafés voll besetzt. Masken trägt kaum einer, der da sitzt. Wüsste man nicht, dass eine Pandemie um sich greift, könnte man glauben, hier habe es Corona nie gegeben.
Es ist Woche zwei der jüngsten Lockerungen in der Schweiz und die Eidgenossen genießen ihre neue Freiheit. Dabei liegt die Sieben-Tage-Inzidenz im Kanton St. Gallen bei 170 gemeldeten Infektionen pro 100000 Einwohner, 23 Prozent höher als in der Vorwoche. Zum Vergleich: In Bayern ist der Wert mit zuletzt knapp 164 nahezu identisch.
Das Fenster im Fitnessstudio an der Ecke des Parks steht weit offen. Am Eingang befindet sich ein Desinfektionsspender, am Boden sind Aufkleber mit dem Schriftzug „Bitte Abstand halten“. Ein paar wenige Menschen trainieren mit Maske an den Geräten. In Deutschland in den meisten Studios noch unvorstellbar – Sport in Innenräumen scheint derzeit außer Reichweite zu sein, schon draußen gibt es strenge Auflagen, wenn die Inzidenz über 100 liegt.
„Das ist ja fast schon Freiheitsberaubung“, findet Carina Bötschi, die Leiterin des kleinen Studios im Herzen der Stadt. Aus ihren Worten klingt ein wenig Befremden über die vergleichsweise strengen Maßnahmen im Nachbarland. Doch auch in der Schweiz geht es nicht ohne Auflagen: Alle 15 Minuten können bis zu vier Kunden ihr Training beginnen. Ein Gerät misst den CO2-Gehalt in der Luft, es werden immer wieder die Fenster aufgerissen und die Geräte desinfiziert. Der Trinkbrunnen ist gesperrt, in den eher kleinen Umkleidekabinen dürfen sich gleichzeitig immerhin bis zu sechs Kunden aufhalten.
Fast vier Monate war das Studio geschlossen. In der ersten Woche sei entsprechend viel los gewesen, sagt Bötschi. Aber wenn das Wetter so schön ist wie an diesem Tag, bleiben die Kunden auch nach langer Durststrecke dem Studio fern. Allerdings nicht Martin Reiser. Der 67-Jährige ist froh, dass er wieder trainieren kann. Zweimal die Woche kommt er her. „Die Schließung war nicht gut“, sagt der Rentner. Er befürwortet die Lockerungen in der Schweiz, die Rückkehr von ein bisschen Normalität. In seinen Worten schwingt Skepsis mit, was die Maßnahmen überhaupt bringen sollen.
Ähnlich sieht das Kurt Zülig. „Wir sind bislang relativ gut gefahren mit den Öffnungen, aber auch mit den Schließungen“, sagt der 68-Jährige. „In den Ländern um uns herum herrschen strengere Regeln, aber ähnlich hohe Infektionszahlen.“Er verstehe nicht, „warum die Schweizer angeblich Corona-müde sind“– und meint, dass die Eidgenossen doch bislang vergleichsweise gut weggekommen sind.
Doch es gibt auch Zweifel. Ein Mann mit Bart und Brille sitzt im Park. Fabian Bischof, Gewerkschaftssekretär. „Ich habe eher Bedenken, wenn man auf das restliche Europa blickt und wie es mit der Pandemie umgeht“, sagt er. So was wie eine Ausgangssperre empfinde er zwar als extrem, aber die Lockerungen der Schweiz könnten „ein Schuss sein, der nach hinten losgeht“. Im Dezember gehörten die Infektionszahlen in der Schweiz – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – zu den höchsten in Europa. Dennoch waren Bundesregierung und Kantone entgegen dem Rat von Ärzten und Wissenschaftlern lange zurückhaltend mit Schließungen. Immer wieder kamen aus den Kliniken Warnungen, dass das Personal an der Kapazitätsgrenze arbeite. „Wie lange sollen diese Warnungen denn noch gehen, bevor etwas passiert???“, twitterte Isabelle Eckerle, deutsche Virologin am Universitätsspital Genf, kurz vor Weihnachten.
Wenig später mussten Restaurants, Kinos, Museen und Sportklubs tatsächlich schließen, Geschäfte und Skigebiete durften offen bleiben. Für den März plante das Land dann Lockerungen, die meisten von ihnen wurden aber wegen steigender Inzidenzwerte verschoben. Die Schweiz mit ihren etwa 8,5 Millionen Einwohnern verzeichnet bislang knapp 660000 Corona-Fälle und 10600 Tote. Zum Vergleich: Deutschland mit fast zehnmal mehr Einwohnern hat rund 3,36 Millionen Fälle und 82500 Todesopfer in Zusammenhang mit Corona.
Nun haben also auch Restaurants wieder geöffnet, zumindest im Außenbereich. Für die Betreiber bedeutet das nicht gerade Planungssicherheit. „Das Wetter ist ja noch recht unbeständig“, sagt Gast Fabian Bischof. Die Küchen drohten auf ihren eingekauften Waren sitzen zu bleiben. Doch auch der Gewerkschaftler gibt zu: „Das freut einen natürlich schon, dass wieder mehr möglich ist, dass es einen Aufwärtstrend gibt.“Es könne sich aber auch schnell wieder ändern.
Wenige Schritte weiter befindet sich das Kunstmuseum von St. Gallen. Museen dürfen in der Schweiz schon seit Anfang März wieder öffnen. Doch die Corona-Politik ging auch an ihnen nicht spurlos vorüber. Im vergangenen Frühjahr mussten die Museen von Mitte März bis Mai schließen. Im Sommer waren sie zwar geöffnet, aber die internationale Kundschaft blieb aus, Vernissagen waren kaum planbar, Leihgaben wegen der eingeschränkten Logistik praktisch nicht zu organisieren. Ende Dezember mussten die Museen dann erneut schließen, bis ins Frühjahr hinein.
Direktor Roman Griesfelder sieht Museen generell als unkritisch, wegen der weitläufigen Räumlichkeiten. Offizielle Zahlen gebe es noch nicht, aber Griesfelder geht für das vergangene Jahr von 30 bis 40 Prozent weniger Besuchern aus. „Von der Wiedereröffnung im März haben wir profitiert, das dürfte sogar der stärkste März seit Jahren gewesen sein“, sagt er. Das habe mehrere Gründe: das schlechte Wetter einerseits, vor allem aber die mangelnden
Alternativen. Freizeitmöglichkeiten gab es nicht, alles andere war zu. Viele Schweizer „haben uns so entdeckt“, sagt Griesfelder.
Persönlich sieht der Museumsdirektor die Lockerungen „ambivalent“. Einerseits sei es gut, den Menschen ein „Stück Normalität“zurückzugeben. Andererseits seien 200000 Ausflügler pro Tag in Zürich „etwas, das wir uns nicht leisten können, damit riskieren wir den Sommer“, fürchtet er.
Gregor Brugnoni hat das Museum an diesem Mittag für sich. Er geht normalerweise regelmäßig in Museen, macht Tagesausflüge kreuz und quer durch die Schweiz. Die Pandemie hat dem 63-Jährigen einen Strich durch die Rechnung gemacht. „Ich bin weniger unterwegs“, sagt er. Der Mann aus dem Kanton Solothurn hofft auf die Impfungen, darauf, dass die Normalität zurückkehrt. Später wird er noch den Stiftbezirk der Stadt um das Kloster besichtigen, vielleicht eine Kleinigkeit essen auf einer der Terrassen, bevor er mit dem Zug nach Olten zurückkehrt. Dort macht sich die Pandemie dann doch bemerkbar. „Normalerweise sind die Züge voll mit Pendlern“, berichtet er. In diesen Tagen, wo schweizweit Homeoffice-Pflicht herrscht, habe er den Zug praktisch für sich alleine.
Die Terrasse des Burgerrestaurants „Hans im Glück“. An einem
Tisch sitzt Sonja Dudler mit ihrem Vater Hans-Peter. Die 24-Jährige sieht die Lockerungen zwiegespalten: „Im ersten Moment habe ich mich gefreut, aber als ich am Wochenende die randvollen Terrassen gesehen habe, kamen mir schon Zweifel“, gesteht sie. Auch Vater Dudler sagt: „Ich wäre nicht traurig gewesen, wenn im Mai noch alles zu gewesen wäre.“
In den kleinen Gassen ringsherum sind auch längst die Terrassen der Cafés besetzt. In der „Art of Cake Factory“sitzt Sarah Bislin. Die Lehrerin genießt zum ersten Mal seit langem einen Kaffee in der Innenstadt. „Ich fühle mich sicher mit dem Abstand“, sagt sie, ergänzt aber, dass sie bei der Wahl des Cafés darauf achte, wie dicht es besetzt sei.
Für das Gespräch trägt sie die Maske, nimmt sie nur ab für das Foto und um kurz einen Schluck Kaffee zu trinken. „Ich habe schon Bedenken“, sagt sie offen. „Das liegt aber eher an dem Verhalten der Menschen.“Wenn man so gesellig beisammensitze, rücke Corona in den Hintergrund, manch einer habe dann keine „Disziplin“mehr.
Die geöffneten Schulen sind aus ihrer Sicht aber kein Problem. In der Schweiz waren diese während der zweiten Welle durchgängig geöffnet. Ansteckungen habe es zwar gegeben. „Aber meist nicht in der Schule“, sagt die Lehrerin. Es seien vielmehr die privaten Kontakte außerhalb des Unterrichts, bei denen Regeln weniger beachtet werden.
Ob die derzeitigen Maßnahmen ausreichen, um die Infektionszahlen im Zaum zu halten, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. Dafür spricht, dass die Zahl der Krankenhaus-Einlieferungen zuletzt stetig sank. Dagegen, dass die Zahl der Neuinfektionen weiter vergleichsweise hoch ist. Zuletzt kamen innerhalb eines Tages weit über 2000 Neuinfektionen hinzu. Immerhin haben inzwischen 2,5 Millionen Schweizer, also etwa knapp ein Viertel der Bevölkerung, eine Erstimpfung erhalten.
Der Stufenplan des Bundesrats sieht vor, dass mit steigender Impfzahl auch höhere Inzidenzen möglich sein sollen, ohne dass Lockerungen zurückgenommen werden müssen. Weitere Öffnungsschritte aber wird es vor Ende Mai nicht geben, betonte Gesundheitsminister Alain Berset zuletzt. Geht die Strategie auf, könnten bis zum Sommer alle geimpft sein, die das wollen. Spätestens dann sollen Einschränkungen nicht mehr nötig sein, heißt es in dem Plan. Es klingt wie eine Verheißung.
Training im Fitnessstudio – ein völlig neues Gefühl
Der Plan des Ministers klingt wie eine Verheißung