Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Lech brachte die Leichen nach Ellgau

Die Online-Enzyklopäd­ie scheint über die ganze Welt Bescheid zu wissen. Aber wie gut kennt es die Orte im Kreis Augsburg? Dieser Frage gehen wir in unserer Serie nach

- VON MARCO KEITEL

Ellgau Bei einer Fahrt durch Ellgau fällt eines sofort auf: Flöße spielen hier eine große Rolle. Das Gasthaus zum Floß in der Ortsmitte hat das Wasserfahr­zeug nicht nur im Namen, sondern auch auf dem Schild, das an der Fassade befestigt ist. Vor dem Rathaus steht ein Floß aus Metall. Die Straße, die am Ortsrand in ein paar hundert Metern Entfernung parallel zum Lech verläuft, heißt

Floßlände. Nicht zuletzt hat Ellgau das Fortbewegu­ngsmittel im Wappen. Wikipedia erklärt: „Der Ort profitiert­e wirtschaft­lich sehr von der Flößerei.“

Hermine Zwerger lebt seit 40 Jahren in Ellgau und war Sprecherin des Arbeitskre­ises, der die Gemeindech­ronik geschriebe­n hat. Sie erklärt: „Der Lech ist einfach das Thema für Ellgau.“Zum Wikipedia-Eintrag ihrer Gemeinde, der nur drei DIN-A4-Seiten umfasst, sagt die 64-Jährige: „Es ist etwas kurz, aber nichts Falsches.“Heute werde der Lech von den Ellgauern eher für Freizeitak­tivitäten genutzt, früher war er überlebens­wichtig. Aber auch da seien die Ellgauer eher mit dem Boot als mit dem Floß unterwegs gewesen. Die Fischerei etwa habe eine große Rolle gespielt: „Die Menschen haben den Arzt mit Fischen bezahlt.“

Dennoch hat das Online-Lexikon recht, wenn es schreibt: „Durch die Nähe zum Lech hatte Ellgau Bedeutung für das Flößereiwe­sen.“In Ellgau sei eine wichtige Anlegestel­le für Holztransp­orte mit dem Floß aus dem Allgäu gewesen, erklärt Zwerger. In den vergangene­n Jahrhunder­ten seien hier oft Bretter deponiert worden, während die Floßfahrer in die Ellgauer Wirtschaft eingekehrt seien – teilweise 100 gleichzeit­ig.

Der Lech brachte aber nicht nur Einnahmen, sondern auch eine Menge Leid nach Ellgau. Bevor er kanalisier­t worden sei, habe es regelmäßig Überschwem­mungen gegeben, erklärt die Chronistin. Das letzte Riesenhoch­wasser war 1910: „Die Leute sind mit Kähnen gefahren, die Kühe waren unter Wasser.“Das halbe Dorf sei damals überschwem­mt worden, die Ernte ruiniert.

Im 19. und 20. Jahrhunder­t spülte der Lech zahlreiche Leichen nach Ellgau. 21 waren es allein zwischen 1880 und 1907, also fast eine pro Jahr. Die Todesursac­he war bei den wenigsten bekannt. Franz Weber starb laut Sterbeurku­nde „durch Ertrinken im Lechflusse“. Die 15-jährige Emma Josefine Scheller aus Augsburg brachte sich laut dem Dokument selbst um, indem sie sich in den Lech stürzte. Die von der Strömung angetragen­en Leichen seien dann in Ellgau beerdigt worden, sagt Zwerger. Für die Gemeinde war das heikel: Als Hilfspfarr­ei von Westendorf hatte Ellgau bis 1876 kein Begräbnisr­echt. „Aus Aufzeichnu­ngen eines Ellgauer Pfarrers wissen wir, dass es um 1850 zahlreiche unerlaubte Begräbniss­e von angeschwem­mten Ertrunkene­n auf dem Ellgauer Friedhof gab“, erklärt die Chronistin.

Zu einer Zeit als der Lech kaum mehr Leichen nach Ellgau trug und der Ort die Überschwem­mungen immer besser unter Kontrolle hatte, brachte ein anderes Ereignis Leid in die Gemeinde am nördlichen Rand des Landkreise­s Augsburg: Der Zweite Weltkrieg. Der Lehrer der Dorfschule habe 1942 zum Sanitätsdi­enst ausrücken müssen, sagt Zwerger.

Den Unterricht habe kurzerhand seine Frau übernommen. Diese Übergangsl­ösung hielt länger an als gedacht: Der Lehrer sei in englische Kriegsgefa­ngenschaft geraten und habe erst 1946 nach Ellgau zurückkehr­en können.

Als amerikanis­che Truppen die Region besetzten, kamen nach Ellgau vor allem hawaiianis­che Soldaten. Die seien nur ein paar Wochen im Ort geblieben und Berichten der Dorfbewohn­er zufolge sehr freundlich gewesen, sagt die Chronistin. In der Nachkriegs­zeit seien dann vor allem „Hamsterer“nach Ellgau gekommen – Stadtbewoh­ner, die in dieser harten Zeit ihre beste Kleidung und Wertgegens­tände gegen Lebensmitt­el tauschten.

Die Geschichte spielt in Ellgau heute eine große Rolle. Im Zuge der Dorferneue­rung, die seit 2005 andauert, hat die Gemeinde etwa einen Rundweg gestaltet: Auf ihrem Weg durch den Ort können Spaziergän­ger an 17 Stationen von Tafeln erfahren, welche Funktion ein Gebäude oder ein Platz in der Vergangenh­eit hatte. Zwei Stunden Lockdown-Langeweile lassen sich so vertreiben.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Durch die Ellgauer Ortsmitte fließt nicht der Lech, sondern der Mühlbach. Der entspringt aber dem Lech und fließt auch wieder in diesen.
Foto: Marcus Merk Durch die Ellgauer Ortsmitte fließt nicht der Lech, sondern der Mühlbach. Der entspringt aber dem Lech und fließt auch wieder in diesen.

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