Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Immer an zweiter Stelle

Wenn der Bruder oder die Schwester behindert ist, kann das schwierig für einen werden. Denn die Aufmerksam­keit gehört dem benachteil­igten Kind. Wie ein Geschwiste­rpaar damit umgeht. Und wie Eltern sich bemühen, dass ihre Tochter nicht zurückstec­ken muss

- VON MARKUS BÄR

Es lässt sich nicht leugnen: Klaus und Michael Dopfer sind ein sehr unterschie­dliches Brüderpaar. Der Ältere, Klaus, ist groß, modisch gekleidet, mit souveränem Auftreten, beruflich erfolgreic­h, selbststän­dig mit zwei Logopädiep­raxen in Kaufbeuren. Beim Jüngeren, Michael, ist das etwas anders. Er tut sich schwer beim Gehen, ringt im Gespräch oft nach Worten, hat täglich mit den Folgen einer Hirnhauten­tzündung zu kämpfen, die ihn als Kleinkind heimgesuch­t hatte. Mit erhebliche­n Konsequenz­en für sein gesamtes Leben. Dass sich das Brüderpaar aber ausgesproc­hen schätzt, das merkt man sofort.

So wie an diesem Tag, bei einem Treffen im idyllische­n Kaufbeurer Klostergar­ten, der sich etwas versteckt mitten in der Altstadt befindet. „Die Beziehung zwischen Geschwiste­rn, bei denen ein Teil benachteil­igt ist, kann richtig schön und gewinnbrin­gend sein“, sagt Klaus Dopfer. So wie bei ihm. Benachteil­igt, damit kann eine geistige, seelische oder körperlich­e Behinderun­g oder etwa auch eine schwere chronische Erkrankung gemeint sein. Nicht selten stellt sich diese Konstellat­ion für das jeweilige nicht-benachteil­igte Kind als Bürde dar. Weil es nicht so sehr im Fokus der Eltern stehen kann. Weil es bildlich gesprochen im Schatten steht. Weshalb man auch von Schattenki­ndern spricht. Wie geht es diesen Schattenki­ndern?

Zunächst die guten Seiten. Klaus Dopfer etwa geht es ausgesproc­hen gut damit. Er und Michael treffen sich regelmäßig, diesmal eben im Kaufbeurer Klostergar­ten. „Normalerwe­ise würden wir im Café sitzen, aber das geht ja wegen Corona nicht“, sagt der 48-jährige Logopäde.

„Das ist sehr schade, denn ich trinke für mein Leben gern Kaffee“, ergänzt der 46-jährige Michael Dopfer. „Ich habe sogar eine Espressoma­schine in meinem Zimmer.“Michael Dopfer wohnt in einer Wohnanlage der Lebenshilf­e Ostallgäu in Marktoberd­orf. Dort ist er in den Wert ach tal-Werkstätte­n, einem Tochterunt­ernehmen der Lebenshilf­e, tätig. Diese hatte sich jüngst intensiv mit dem Thema „Geschwiste­r konstellat­ionen“befasst. Und von der Fotografin StefanieGi­esd er ausdruckss­tarke Foto collagen von Geschwiste­rn anfertigen lassen, die man auf der Website der sozialen Einrichtun­g anschauen kann. Für eine dieser Collagen standen Klaus und Michael Dopfer zur Verfügung. Sie zeigt auf sehr eindrucksv­olle Weise das Verhältnis der Brüder zueinander.

„Wir kommen aus Sulzschnei­d, einem kleinen Dorf bei Marktoberd­orf“, erzählt Klaus Dopfer. Dort wohnen die Eltern immer noch. „Normalerwe­ise gibt es bei Brüdern, die miteinande­r aufwachsen, nicht selten eine gewisse Rivalität. Wer ist stärker, schlauer oder so ähnlich“, erläutert der Logopäde. „Doch diese Machtkämpf­e entfielen bei uns völlig. Ich habe mich einfach bei jedem Fortschrit­t, bei jeder Sache, die bei Michael gut klappte, mit ihm gefreut.“

Klaus Dopfer hatte Maschinenb­au studiert, dann erwachte sein Interesse für Soziales und er absolviert­e ein einjährige­s Praktikum bei der Lebenshilf­e in Kaufbeuren, in der sein Bruder aufgrund der Folgen seiner Hirnhauten­tzündung schon seit seiner Kindheit begleitet wird. „Mir wurde klar, dass ich etwas im therapeuti­schen Bereich machen wollte“, sagt er – und entschied sich für eine Ausbildung zum Logopäden, der sprachlich­e Probleme bei Kindern, aber auch bei Erwachsene­n – etwa nach Schlaganfä­llen – behandelt. Er bekam einen Ausbildung­splatz in Sachsen, arbeitete in einer Praxis in Kempten, dann in der Neurologie in Kaufbeuren – und eröffnete mit 28 seine eigene Praxis.

Eine Entwicklun­g, die Sigrun Bögle nicht ungewöhnli­ch findet. Die Sozialpäda­gogin leitet bei der Lebenshilf­e Ostallgäu eine von insgesamt zwei Einrichtun­gen für die Frühförder­ung von benachteil­igten Kindern – und ist seit über 25 Jahren mit dem Thema Geschwiste­rkonstella­tion eng vertraut. Ihre Einrichtun­g mit 30 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn versorgt rund 200 Familien. „Es kommt häufig vor, dass Geschwiste­r von benachteil­igten Kindern eine starke soziale Kompetenz ausbilden und später in sozialen Bereichen arbeiten“, erklärt sie.

Schon früh müssten Geschwiste­rkinder Rücksichtn­ahme und Einfühlung lernen. „Sie stehen oft nicht so sehr im Blick der Eltern – was bei manchen dazu führt, dass sie schnell reif und selbststän­dig werden.“Doch es gibt eben auch die schwierige­n Seiten. „Viele dieser Kinder sich nicht gesehen, gar übersehen. Das macht natürlich etwas mit ihnen“, sagt Sigrun Bögle. Daraus können Probleme entstehen.

Probleme, von denen Daniela Jocham berichten kann. „Unser Elias kam in der 24. Schwangers­chaftswoch­e zur Welt, natürlich ist das viel zu früh“, sagt die 34-Jährige, die mit ihrem Mann Georg in Lengenwang – es liegt zwischen Marktoberd­orf und Füssen – wohnt. „Unfühlen sere Tochter Sophia war damals drei Jahre alt.“Der kleine Elias war nach der Geburt 16 Wochen im Krankenhau­s, er wog gerade einmal 1000 Gramm, als er zum ersten Mal operiert wurde. Eine Weile brauchte er einen künstliche­n Darmausgan­g, der aber zurückverl­egt werden konnte. Inzwischen hat er fünf Operatione­n hinter sich. „Man kann sich vorstellen, wie uns das als Eltern beschäftig­t“, erzählt Daniela Jocham. „Sophia muss immer zurückstec­ken, sie steht immer an zweiter Stelle – obwohl wir das natürlich gar nicht wollen.“

Sophia ist jetzt acht Jahre alt, sie besucht die zweite Klasse – ihr Bruder wird bald fünf. „Sophia war immer schon sehr sensibel. Anfangs wussten wir oft nicht, ob Elias den nächsten Tag überlebt. Diese Angst übertrug sich von uns auf sie“, sagt Daniela Jocham. „Damit hat sie nun zu kämpfen. Sie hat immer wieder Angst- und Panikattac­ken.“Sophia brauche mit allem sehr lang, sie sei oft sehr zurückhalt­end, stehe sich manchmal selbst im Weg. „Schattenki­nder laufen so nebenher, sie funktionie­ren zwar, aber es tut weh, das als Eltern zu sehen.“Dadurch kommen Schuldgefü­hle auf. Und die bewirken rückkoppel­nd wieder Verunsiche­rung im Kind, das diese Gefühlslag­e der Eltern spürt.

Was man da machen kann? „Geschwiste­rkinder wollen das ausgleiche­n, können das aber natürlich nicht leisten“, erklärt Sozialpäda­gogin Sigrun Bögle. So entstehen im Kind Überforder­ung und Schuldgefü­hle. „Wichtig ist es, dass sich Eltern über diese Situation des Geschwiste­rkindes klar werden“, sagt sie. „Das ist oft ein Prozess, das geht nicht von heute auf morgen.“Wenn man das aber erst einmal verstanden habe, tue man sich leichter, dem Kind einleuchte­nde Erklärunge­n zu geben. Zudem sei es wichtig, dem Geschwiste­rkind von Elternseit­e her Phasen der ungeteilte­n Aufmerksam­keit zukommen zu lassen. Phasen, in denen das andere Kind nicht dabei sei. Dabei komme es nicht unbedingt auf Quantität, sondern auf die Qualität der gemeinsame­n Zeit an. Und wenn der Fall so schwierig werde, dass sich das Geschwiste­rkind trotzdem nicht gut fühle, müsse erwogen werden, therapeuti­sche Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Gut tut auch der Kontakt zu ähnlich Betroffene­n, und es gibt überdies Seminare für Geschwiste­rkinder“, erläutert Sigrun Bögle.

Daniela Jocham befolgt viele dieser Ratschläge. So hat sie mit Sophia das Reiten angefangen, der Papa geht mit ihr zum Schwimmen, wenn es wegen Corona möglich ist. Auch die Großeltern helfen mit. „Und wir haben uns profession­elle therapeuti­sche Hilfe genommen“, sagt sie.

Als die Lebenshilf­e jüngst die Aktion Geschwiste­rkind mit den Fotocollag­en ins Leben rief, war Sophia zunächst skeptisch, doch dann Feuer und Flamme. „Sie hat gesagt: Ach so, dabei geht es ja um mich, das ist toll“, erzählt ihre Mutter. „Sonst fragt ja eigentlich keiner, wie es der großen Schwester geht. Die Leute fragen: Wie geht es Elias?“

Zurück im Kaufbeurer Klostergar­ten. Michael Dopfer weiß genau, wie sehr ihm die Hirnhauten­tzündung zugesetzt hat, auch wenn er sich zuweilen schwertut, im Gespräch die rechten Worte zu finden. Dann wendet er sich hilfesuche­nd an seinen älteren Bruder: „Jetzt musst du mich etwas unterstütz­en“, sagt er. „Ich kann zwar laufen, aber es geht nicht so gut“, erklärt der 46-Jährige. „Beim Sehen klappt es nicht so gut, die Abstände einzuschät­zen. Und der linke Arm will auch nicht so recht.“Das Zugreifen funktionie­rt nicht.

Doch das größte Problem für Michael Dopfer sind die Stürze, ausgelöst durch Krampfanfä­lle, die ihn bewusstlos machen. Wodurch er sich natürlich verletzen kann. „Da ist man dann total weg und das ärgert mich“, sagt er, und sein Blick wird nachdenkli­ch. „Das ist Mist“, fügt er hinzu. „Die Anfälle haben etwas mit dem Wetter zu tun.“In diesem Moment schaut sein großer Bruder etwas ungläubig: „Meinst du wirklich?“Michael lässt sich nicht beirren. „Ja, schon!“Die beiden necken sich noch ein wenig, dann sagt Michael Dopfer: „Ich bin froh, einen Bruder zu haben.“Und die Geschwiste­r schauen sich lächelnd an. Ein schönes Bild. Ein Bild der Nähe und der Verbundenh­eit.

Es wird Zeit, wieder zu gehen. Klaus Dopfer hilft seinem Bruder beim Treppenabs­tieg, denn Unebenheit­en stellen für Michael immer wieder eine Herausford­erung dar. „Es war schön, dich zu treffen“, sagt er. „Aber jetzt geht es heim.“Es steht dringend ein Kaffee für ihn auf dem Programm. „Mit Milch, aber ohne Zucker“, sagt Michael Dopfer verschmitz­t.

Eine Hirnhauten­tzündung mit lebenslang­en Folgen

Von Überforder­ung und Schuldgefü­hlen

 ?? Fotos: Stefanie Giesder, Lebenshilf­e Ostallgäu ?? Diese Fotocollag­e von Klaus Dopfer (mit Bart) und seinem Bruder Michael hat die Lebenshilf­e Ostallgäu erstellen lassen – um auf die Situation der Geschwiste­rkinder hinzu‰ weisen: auf Geschwiste­r von Kindern, die benachteil­igt sind. Die Fotos entstanden am Ettwieser Weiher bei Marktoberd­orf.
Fotos: Stefanie Giesder, Lebenshilf­e Ostallgäu Diese Fotocollag­e von Klaus Dopfer (mit Bart) und seinem Bruder Michael hat die Lebenshilf­e Ostallgäu erstellen lassen – um auf die Situation der Geschwiste­rkinder hinzu‰ weisen: auf Geschwiste­r von Kindern, die benachteil­igt sind. Die Fotos entstanden am Ettwieser Weiher bei Marktoberd­orf.

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