Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Chaos rund um die Zweitimpfung
Hausärzte sind massiv verärgert. Eigentlich erfolgt der zweite Piks mit AstraZeneca nach zwölf Wochen. Minister Spahn verkürzte nun das Intervall. Welche Folgen das hat
Augsburg Katastrophal sei diese Entscheidung. Und unverantwortlich. Das betont Gregor Blumtritt, ärztlicher Leiter der Impfzentren Kaufbeuren und Marktoberdorf. Hintergrund für den massiven Ärger ist eine Entscheidung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), das Intervall zwischen der Erst- und der Zweitimpfung bei AstraZeneca zu verkürzen: Von ursprünglich zwölf auf vier Wochen. Bei Blumtritt steht sowohl im Impfzentrum im Allgäu als auch in seiner Hausarztpraxis in Kaufbeuren seitdem das Telefon nicht mehr still, weil so viele Menschen früher ihre Zweitimpfung haben wollen. „Doch das ist gar nicht möglich“, hebt der Hausarzt hervor. „Wir haben immer noch nicht genügend Impfstoff.“Auch logistisch sei dies beim besten Willen nicht zu stemmen.
Die Gründe für den Wunsch nach einer rascheren Zweitimpfung liegen für Blumtritt auf der Hand: „Die Menschen wollen endlich wieder die versprochenen Freiheiten genießen, die vollständig Geimpfte nun haben. Sie wollen in den Urlaub fahren und einkaufen gehen.“Menschlich völlig nachvollziehbar ist das für Blumtritt. „Ich kann die Leute wirklich gut verstehen, wir haben alle ein extrem hartes Jahr hinter uns.“Allerdings erinnert der Arzt auch daran, dass noch immer sehr viele kranke Menschen auf eine Erstimpfung warten, nachdem die Priorisierung immer weiter aufgehoben wird. Wichtigstes Argument für Blumtritt ist aber der medizinische Schutz, der durch ein kürzeres Intervall zwischen Erst- und Zweitimpfung abgeschwächt wird. Zwar stimme es, dass bereits nach der ersten Impfung ein sehr hoher Schutz besteht, doch erst mit der verstärkenden zweiten erreiche man einen besseren Schutz.
Ganz so eindeutig ist für Professor Clemens Wendtner, Chefarzt an der München Klinik Schwabing, die aktuell verfügbare Datenlage nicht. In der Erststudie, die auch zur Zulassung von AstraZeneca führte, sei bereits ein Zeitraum von vier bis zwölf Wochen für die Zweitimpfung empfohlen worden, damit das Vakzin sowohl vor leichten wie vor schweren Infektionen schützt. Ein verkürztes Intervall von vier bis zwölf Wochen gebe daher auch die offizielle Fachinformation her.
Wissenschaftlich betrachtet beruhe die Empfehlung bezüglich eines längeren Abstands von zwölf Wochen „auf statistisch nicht belastbaren Subgruppen-Analysen der Zulassungsstudie und später nachgeschobenen Phase-2-Studien mit leicht erhöhter Wirksamkeit“. Daher findet der Infektiologe die Verkürzung des Intervalls auf vier Wochen prinzipiell nachvollziehbar und medizinisch nicht per se bedenklich. Zumal er gerade bei Tumorpatienten oder Patienten mit anderen Grunderkrankungen eine schnelle Zweitimpfung befürwortet.
Auch werde AstraZeneca dadurch aufgewertet, da viele Menschen möglichst schnell einen vollständigen Impfschutz haben wollen und bei AstraZeneca bisher im Vergleich zu Biontech oder Moderna länger warten mussten. Eine eigenmächtige „Umbuchung“der Zweitimpfung auf ein kürzeres Intervall ist aber auch für Wendtner mit Blick auf die Logistik in den Impfzentren nicht zu befürworten. Vielmehr könne nach Vorliegen belastbarer Daten ein kürzeres Intervall bei künftigen Erstimpfungen und mit Blick auf Verfügbarkeiten von Impfstoff dann angedacht werden.
Brisant findet Wendtner auch die Frage, ob Menschen unter 60 Jahren mit einer Erstimpfung von AstraZeneca jetzt wirklich switchen, also auf einen mRNA-Impfstoff umsteigen sollten? Gerade mit Blick auf die ausstehende Empfehlung durch die WHO, die noch keine ausreichende Datenlage für eine Kreuzimpfung sieht, würde Wendtner nach einer Erst- auch eine Zweitimpfung mit AstraZeneca empfehlen.
Eine deutliche Absage bezüglich einer Verkürzung des Impfintervalls bei AstraZeneca kommt dagegen von dem Immunologen Professor Carsten Watzl. Für ihn haben Studien gezeigt, dass die Effektivität des Schutzes bei einem Abstand von weniger als sechs Wochen nur 55 Prozent beträgt und erst bei einem Abstand von zwölf Wochen bei über 80 Prozent liegt. Daher muss man seines Erachtens den Menschen klar sagen: „Wenn Sie Ihren Impfabstand bei AstraZeneca verkürzen, um damit schneller in den Genuss von Lockerungen zu kommen, machen Sie das auf Kosten ihres Immunschutzes!“
Auch der schwäbische Bezirksvorsitzende im Bayerischen Hausärzteverband, Dr. Jakob Berger, sagt: „Die Zweitimpfung bei AstraZeneca sollte nach zwölf Wochen erfolgen, weil nur so der beste Schutz in Kraft tritt.“Urlaubsplanungen oder andere Freiheiten sind für den erfahrenen Hausarzt aus dem Landkreis Augsburg kein Argument, eine Impfung zu verschieben. Ausnahmen seien nur beispielsweise Operationen oder eine Chemotherapie. Berger berichtet, dass er und seine Kollegen noch immer viel Aufklärungsarbeit für den immer wieder in die Schlagzeilen geratenen Impfstoff von AstraZeneca leisten müssten, auch bei Älteren.
Und auch der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. Gerald Quitterer, warnt am Montag davor, den Abstand zu verkürzen: „Die Dosisintervalle zu verringern, nur um schneller in den Genuss von mehr Freiheiten zu gelangen, anstatt auf die größere Impfsicherheit zu setzen, ist nicht zielführend.“
Vor dem Hintergrund, dass jetzt so viele Menschen sich um einen schnelleren, vollständigen Impfschutz bemühen, wäre es Hausarzt Blumtritt lieber gewesen, die Politik hätte die Freiheiten von Anfang an bereits nach der ersten Impfung zugesagt. „Jetzt wurde nur mal wieder ein großes Chaos angerichtet. Und wir Hausärzte haben den Schwarzen Peter.“Wie aggressiv allerdings manche um ihre versprochenen Freiheiten kämpfen, überrascht dann doch, erzählt Blumtritt: „Im Impfzentrum haben uns manche sogar schon mit ihrem Anwalt gedroht, wenn sie nicht früher ihre Zweitimpfung bekommen.“
Krebspatienten sollten schnell geimpft werden