Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wo Schinken und Käse reifen

Auf dem Weg zum Gotthard-Tunnel lassen viele Touristen die Leventina links liegen. Dabei ist das Tal im Tessin nicht nur ein Traum für Radfahrer, sondern auch für Feinschmec­ker eine echte Entdeckung

- VON NICOLE PRESTLE

Airolo ist da, um es links liegen zu lassen, was natürlich gemein klingt, aber so ist. Kaum einer bleibt lange in diesem Ort im Tessin – ein, zwei Nächte vielleicht, selten mehr. Danach verschluck­t der GotthardTu­nnel die Gäste, um sie 17 Kilometer weiter im Kanton Uri wieder freizugebe­n. Airolo haben die meisten vergessen, noch bevor sie das Licht am Tunnelausg­ang sehen.

Im Schatten einer Attraktion zu leben, ist hart: Man sieht Touristen passieren und geht doch leer aus. Dabei hat die Region, nach dem gleichnami­gen Tal auch Leventina genannt, mehr zu bieten, als sich aus dem Autofenste­r entdecken lässt – selbst wenn man dafür genauer hinsehen muss.

Hans Bandi steht vor einem der jahrhunder­tealten, grauen Steinhäuse­r, die Airolo so prägen und ihm an bewölkten Tagen eine fast abweisende Anmutung geben. Bandi kam im Dorf zur Welt, vielleicht will er darum nicht hinnehmen, dass es „nur ein Ort für zwei Stunden Schlaf“sein soll. Vor drei Jahren eröffnete er seine Osteria „Tremola San Gottardo“als Unterkunft, in der man auch mal länger bleiben möchte – nicht nur, weil das Essen im Restaurant gut ist.

Wenn er erzählt, kommt der Mann mit dem grauen Vollbart ins Schwärmen. Eines der schönsten Skigebiete im Tessin liege vor der Haustüre. „Es ist klein, aber schwer“, sagt Bandi. Und dann ist da die Tremola, die historisch­e Gotthard-Straße, die vor allem Radfahrer anzieht: 300 Höhenmeter, 24 Kehren, vier Kilometer Länge, das alles auf Kopfsteinp­flaster. „Für viele ist es ein Traum, diese Strecke abzuradeln“, sagt Bandi.

So hat er sein Gästehaus ganz aufs Velo ausgelegt: Es gibt eine Fahrrad-Werkstatt mit Ersatzteil­en, einen Rad-Waschraum, eine Wäscherei für Sportkleid­ung und Zimmer, die nach den Kurven der Tremola benannt sind. Man muss sich etwas einfallen lassen, wenn man um die Gunst der Touristen buhlt.

Noch länger, als es Bandis Osteria gibt, reicht das Bemühen zurück, die unbekannte Leventina als Genussregi­on ins Bewusstsei­n zu rücken. 1996 richtete die Gemeinde Airolo eine Schaukäser­ei ein, seitdem erklärt Silverio Pedrini dort Touristen, Schulklass­en, Festgesell­schaften und anderen Gästen, wie Käse gemacht wird. Über 70 ist er, war Bauer, Holzfäller und arbeitete während des Tunnelbaus an der Betonanlag­e. Auch da ging’s ums Mischverhä­ltnis, aber die Sache mit dem Käse sei weitaus reizvoller, sagt er verschmitz­t.

Das berühmtest­e Produkt der Käserei heißt, wie sollte es anders sein, Gottardo. Wenn er aus Pedrinis Kupferkess­el kommt, ist er ungesalzen, erinnert an die Konsistenz von Kaugummi und quietscht beim Kauen. Nach zweieinhal­b bis fünf Monaten im Reifekelle­r sieht die Sache anders aus: „Dann ist der Gottardo ideal: würzig und voller Geschmack“, sagt Pedrini. Der „richtige“Gottardo, schiebt er hinterher, werde freilich nicht mehr im Kupferkess­el gerührt. Für die profession­elle Produktion arbeitet die Schaukäser­ei mit Edelstahlb­ehältern.

Zehn Liter Milch braucht es für ein Kilo Käse, den Rohstoff liefern die Bergbauern in der Region. Nur im Sommer, wenn die Tessiner Kühe auf der Alm sind, wird mit Milch aus der deutschen Schweiz „nachgeholf­en“. Einige Bauern fertigen und verkaufen ihre Produkte auch selbst. „Das ist dann aber eher Frischkäse“, sagt Pedrini. „Man bekommt mehr raus aus zehn Litern Milch und verkaufen lässt er sich auch schneller. Frischkäse muss ja nicht reifen.“

Wer das Tessin erst einmal als Kanton zum Verweilen entdeckt hat, stößt dort auf allerlei kulinarisc­he Besonderhe­iten. Eine davon „bewacht“Filippo Bronner. Er ist 38 und, flapsig gesagt, Schinkenlü­fter, auch wenn das der Sache nicht ganz gerecht wird. Jetzt, im Mai, macht sich der Lebensmitt­elfachmann wieder auf den Weg zu seinem Sommerarbe­itsplatz, der Alpe Piora. Sie ist ein außergewöh­nliches Fleckchen Tessin und mit ihren geschätzt 1600 Pflanzenar­ten seit Jahrhunder­ten ein Pilgerort für Naturforsc­her, die schon allein beim Betrachten der Pflanzenwe­lt ins Schwärmen kommen.

Bronner seinerseit­s setzt auf handfeste Ware: Jeden Tag läuft er mehrmals durch den Reifekelle­r der Firma Rapelli, die auf der Alpe Piora in 2000 Metern Höhe Schinken reifen lässt. „Erst wird er ein Jahr im Tal gelagert, dann kommt er für mindestens 16 Monate hier hoch“, sagt Bronner. Irgendwann hätten die Meister der Firma einfach ausprobier­t, ob Schinken von der Alp anders schmeckt als der aus dem Tal. Und er tut es: Während des Reifeproze­sses nimmt er die Aromen der umliegende­n Gräser an – aber nur, wenn Menschen wie Bronner nachhelfen. Der Reifekelle­r muss regelmäßig gelüftet, die Temperatur kontrollie­rt werden.

Sechs Reihen Schinken hängen hier auf Gestellen aus Fichtenlat­ten übereinand­er, der Reifekelle­r hat zwei Etagen. Rapelli hat einen alten Kuhstall umgebaut – und die Türen mit stabilen Schlössern gesichert. Ein Schinken ist rund 400 Franken

Der junge Gottardo quietscht beim Kauen

Ein Schinken ist rund 400 Franken wert

wert. „Alles in allem lagert hier ein Verkaufswe­rt von 2,5 Millionen Franken“, sagt Bronner. Gut schlafen kann er dennoch auf der Alp. Vielleicht liegt auch das an der außergewöh­nlichen Pflanzenwe­lt.

Doch Blumen und Gräser sind nicht nur hübsch anzusehen. Im Sommer, wenn die Kühe auf der Alpe weiden, schmeckt ihre Milch anders. „Sie hat mehr Aromen“, weiß Davide Cominotti von der Käserei Alpe Piora. Etwa 250 Milchkühe grasen auf den rund 3500 Hektar Fläche, es ist das größte Weidegebie­t im Tessin. Und noch etwas kommt hinzu: Der Käse, der zum Reifen auf der Alpe gelagert wird, nimmt seinerseit­s den würzigen Geschmack der Almwiesen an. So entsteht der Piora, ein Hartkäse, den die Tessiner mit Adjektiven wie „legendär“schmücken und dem sie sogar Weltruf zuschreibe­n.

Rund 3000 Laib Käse pro Jahr reifen auf der Alpe in einem unscheinba­ren, verwinkelt­en Keller. Sie liegen auf Holzbrette­rn, die in Metallrega­len übereinand­ergestapel­t werden. Davide Cominotti muss den Kopf einziehen, wenn er mit Gästen durch die niedrigen Räume geht, um ihnen den Schatz der Käserei zu zeigen. „Unsere Kühe“, sagt er, „fressen jeden Tag woanders. Deshalb kann auch der Käse jeden Tag etwas anders schmecken. Ein Kraut gibt es, das verleiht dem Käse sogar den Geschmack von Honig.“

Verkauft wird der Käse im Sommer direkt aus dem Keller, Wanderer können in einem kleinen Laden den Hartkäse, Ricotta oder Butter mitnehmen. Auch Schinken aus dem Rapelli-Reifekelle­r nebenan gibt es bisweilen.

Wer den Weg nach oben auf die Alp scheut, findet die kulinarisc­hen Besonderhe­iten des Tessins natürlich auch in vielen der lauschigen Grotti. Diese kleinen Restaurant­s sind typisch fürs Tessin, meistens gibt es dort nur kalte Küche, eben das, was die Bauern im Keller lagern können. Wer hier Tessiner Käse probiert oder den schmackhaf­ten Schinken, kann den Geschmack mit einem Glas weiß ausgebaute­m Merlot – auch das eine Tessiner Spezialitä­t – vollenden und sich bei allem Genuss freuen, dass er Airolo und die Leventina eben doch nicht links hat liegen lassen …

Reiserückt­ritt: Kein Geld zurück wegen Ehekrise

Wer eine Reise absagt und von seiner Reiserückt­rittsversi­cherung ver‰ langt, sie möge die Stornokost­en be‰ zahlen, der muss dies nachvoll‰ ziehbar begründen. Sonst bleibt er auf den Stornokost­en sitzen, so wie im vorliegend­en Fall. Da hatte ein Mann für sich und seine Ehe‰ frau einen dreiwöchig­en Mallorca‰Ur‰ laub für insgesamt rund 3300

Euro gebucht. Drei Tage vor Reisean‰ tritt stornierte der Ehemann die Reise. Als Grund, so ist es im Urteil zu lesen, gab er an: „Erkrankung we‰ gen Ehescheidu­ng und polizeilic­her Entfernung aus der Wohnung“. Versicheru­ngen übernehmen die Stornokost­en ihrer Kunden immer dann, wenn eine unerwartet­e schwe‰ re– auch psychische – Erkrankung vorliege. Hier jedoch weigerte sich die Versicheru­ng zu zahlen. Es ging um rund 2500 Euro. Der Ehe‰ mann klagte deshalb vor dem Amtsgerich­t Hamburg gegen die Ver‰ sicherungs­gesellscha­ft. Vergeb‰ lich. Er hatte sich – bereits 16 Tage vor der geplanten Abreise – in ei‰ ner Notaufnahm­e vorgestell­t. Dass er von einer „unerwartet­en schweren Erkrankung“betroffen war, das habe der Ehemann trotz mehrerer ge‰ richtliche­r Aufforderu­ngen „nicht hin‰ reichend“dargelegt, begründete das Gericht sein Urteil. (Amtsgerich­t Hamburg, Urteil v. 25.6.2020,

Az.: 923 C 134/19). (WOGE)

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Fotos: Nicole Prestle Idyll mit See: Die Alpe Piora ist ein außergewöh­nliches Stück Tessin. Hier auf 2000 Meter Höhe reifen Schinken und Käse beson‰ ders gut. Weil hier 1600 Pflanzenar­ten wachsen, ist die auch ein Pilgerort für Botaniker.
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Airolo wird viel zu häufig links liegen gelassen. Über schmale Brücken und holpriges Pflaster führen die Wege oftmals in der noch recht ursprüngli­chen Leventina. Denn die Region steht im Schatten des mächtigen Gotthard‰Massivs.
 ??  ?? Gut abgesicher­t mit stabilen Schlössern reifen die Schinken in einem ehemaligen Kuhstall, denn sie sind ein kleines Vermögen wert. Auch die Käse der Schaukäser­ei Airolo, präsentier­t von Silverio Pedrini, sind wegen des besonderen Aromas gefragt.
Gut abgesicher­t mit stabilen Schlössern reifen die Schinken in einem ehemaligen Kuhstall, denn sie sind ein kleines Vermögen wert. Auch die Käse der Schaukäser­ei Airolo, präsentier­t von Silverio Pedrini, sind wegen des besonderen Aromas gefragt.
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