Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Klangbaden mit den Philharmon­ikern

Nach Oper, Schauspiel und Ballett gibt es nun auch eine Orchesterp­roduktion des Staatsthea­ters mit 360°-Effekt. Jetzt darf jeder den Musikern auf die Finger gucken

- VON RÜDIGER HEINZE

Dabei sein ist alles. Den Spruch kennen wir. Jetzt stellt sich raus: Mittendrin sein ist besser.

Möglich macht’s die VR-Brille. Gestern galt im Sinfonieko­nzert die säuberlich­e Trennung zwischen Dirigent und Orchester oben, Publikum unten. Die Musiker durften ihren Arbeitspla­tz nicht verlassen, sie wurden auf dem Podium gebraucht; die Hörer unten konnten nicht einfach während des Konzerts die Bühne erklimmen, durch die Instrument­alisten-Reihen wandern, nach dem Rechten gucken ...

Aber das geht jetzt eben. Der Wunschtrau­m des Klangbaden­s mitten im Orchester, der Wunschtrau­m, von Musikern umgeben zu sein und ihnen auf die Finger zu schauen – wenn auch nicht zu klopfen –, das funktionie­rt nun.

Nach dem Einsatz in der Oper (Glucks „Orfeo“2020), nach dem Einsatz in Schauspiel und Ballett, gibt es nun auch eine Virtual-Reality-Produktion der vierten Sparte des Staatsthea­ters, nämlich der Augsburger Philharmon­iker. Sie führen Modest Mussorgski­s „Bilder einer Ausstellun­g“auf – und mittels der VR-Brille (sowie Kopfhörern), die überzuzieh­en und anzulegen sind, kann das Publikum mit 360-Grad-Perspektiv­e zuschauen und zuhören, wie es so abgeht bei den Philharmon­ikern, wenn sie arbeiten.

Kann auf Position eins, das ist in etwa da, wo sonst der Klaviersol­ist hockt oder die Violinsoli­stin geigt, den Part der beiden Konzertmei­sterinnen Jung-Eun Shin und Agnes Malich mal aus nächster Nähe verfolgen (links) oder die Schlagtech­nik von Generalmus­ikdirektor Domonkos Héja rechts im Umwenden. (Nur ihm in den Arm fallen, das geht nicht!)

Kann auf Position zwei zwischen Hörnern und Trompeten mit Blick zum Pult mal kontrollie­ren, ob der GMD auch alle wichtigen Einsätze fürs Blech gibt – und anderersei­ts prüfen, ob die erste Trompete ihre schwierige (Probespiel-)Stelle in „Samuel Goldenberg und Schmuyle“tadellos und unfehlbar absolviert.

Kann auf Position drei zuhören, wie die Fagotte kantabel die düstere Aura des alten Schlosses anstimmen, während die Kontrafago­ttistin auf ihren Einsatz noch wartet.

Kann auf Position vier zwischen den beiden Harfenisti­nnen und der Celesta-Spielerin auch deren Akustikund Hör-Perspektiv­e „im Ernstfall“verfolgen – und sich umdrehen, um sich auch dem letzten Pult der Bratschen-Abteilung zu widmen. Wohlgemerk­t: Auf allen vier Positionen kann der „Orchesterg­ast“nach links, nach rechts, nach vorn und hinten sich drehen – und die Ohren aufsperren.

Dass für diese virtuelle Rundumerfa­hrung Mussorgski­s „Bilder einer Ausstellun­g“in der Orchestrie­rung von Maurice Ravel bestens geeignet ist, liegt auf der Hand: ein Orchesterh­it, eine nachvollzi­ehbare farbige Programmmu­sik, ein „Ausstellun­gsbummel“, bei dem sich viele unterschie­dliche Instrument­e mit dankbaren Solopassag­en präsentier­en. Freilich wäre es hilfreich für alle Musikfreun­de, läge der Brille noch ein Blatt Papier mit der Abfolge der Sätze bei – und entspreche­nden Tipps, in welcher Position auf welches Instrument im Moment gerade besonders zu achten ist. Dann könnte auch der weniger erfahrene Gast stets zum rechten Zeitpunkt die Position wechseln, um im Mittelpunk­t des musikalisc­hen Geschehens zu stehen.

Augsburgs Philharmon­iker jedenfalls nutzen die Gunst der Hightech-Stunde. Aufgezeich­net wurde das Virtual-Reality-Konzert im März 2021 unter Corona-Schutzaufl­agen in der Gersthofer Stadthalle; die Abstände zwischen den Instrument­alisten zeigen es.

Ganz nebenbei: Nicht nur die Philharmon­iker-Fans, die auf Tuch- und Hautfühlun­g gehen wollen, haben hier ein wunderbare­s Ton- und Filmdokume­nt aus nächster Nähe, auch GMD Domonkos Héja kann jetzt mal detaillier­t betrachten, ob die Standard-Aufforderu­ngen aller Orchestere­rzieher bei den entscheide­nden Schlüssels­tellen wirklich von den Musikern befolgt werden: „Schauen Sie aus Ihren Noten heraus, schauen Sie nach vorne, schauen Sie auf mich!“

Folgendes im Übrigen wäre die nächste Stufe: Dass alle die, die jetzt lauschend und guckend aufs Podium spazieren und Mäuschen spielen, auch dirigieren dürfen. Und dass das Orchester ihnen folgt. Eine Wahnsinnsv­orstellung. Lassen wir das. VR‰Brille Im Augsburger Stadtgebie­t kann die VR‰Brille beim Fahrradkur­ier boxbote bestellt werden (25 Euro kom‰ plett), innerhalb Deutschlan­ds über den bundesweit­en Versandser­vice firstrow (19,90 Euro plus 13,90 Euro für Ver‰ sand und Rücksendun­g). Genaueres un‰ ter: https://staatsthea­ter‰augsburg.de/ vr_theater_at_home.

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Foto: Jan‰Pieter Fuhr Was machen denn die Geigen so? Das können Klassik‰Fans jetzt mit moderner Technik aus nächster Nähe erforschen. Die Augs‰ burger Philharmon­iker sind nun auch über die VR‰Brille zu erleben.

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