Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die düstere Warnung der Virologen

Das Virus ist wieder auf dem Vormarsch. Die Kanzlerin macht die Corona-Politik von neuen Berechnung­en des Robert-Koch-Instituts abhängig. Demnach könnten im Herbst und Winter wieder schwere Tage kommen

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin In Deutschlan­d stecken sich wieder mehr Menschen mit dem Coronaviru­s an, die Fallzahlen klettern rapide. Der Sieben-Tage-Mittelwert der Neuansteck­ungen liegt bei rund 1500 Fällen und damit um 50 Prozent höher als die Woche davor. „Wir haben exponentie­lles Wachstum“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag während ihrer traditione­llen Sommerpres­sekonferen­z vor den Hauptstadt­journalist­en. Das Wachstum des Mittelwert­es ist sogar höher als je während der dritten Welle, die Deutschlan­d im Frühjahr durchgemac­ht hat.

Doch anders als vor wenigen Monaten ist heute die Mehrzahl der Menschen hierzuland­e gegen den Erreger geimpft. 60 Prozent sind mindestens einmal geimpft, knapp die Hälfte sogar zweimal. Besonders die Älteren sind in hoher Zahl geschützt, was die Belastung der Krankenhäu­ser senkt. Denn das Alter ist nach wie vor der entscheide­nde Faktor für die Wahrschein­lichkeit eines schweren Verlaufs nach einer Ansteckung. Merkel unterstric­h noch einmal, dass für sie der wichtigste Maßstab ihrer Corona

Politik ist, eine Überlastun­g der Kliniken zu vermeiden. Doch welche Ableitung folgt daraus, wenn sich wieder viele anstecken, sich die Krankenhäu­ser aber nicht füllen? Die Kanzlerin und ihr Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) sind darüber uneins: „Wenn alle Menschen in Deutschlan­d ein Impfangebo­t haben, gibt es rechtlich und politisch keine Rechtferti­gung mehr für irgendeine Einschränk­ung“, hatte Maas vor kurzem gesagt.

Merkel sieht das anders. Weil zum Beispiel Kinder unter zwölf Jahren bislang nicht geimpft werden können und Einzelne trotz Immunisier­ung keine Antikörper ausbilden können, plädiert die 67-Jährige weiter für Vorsicht: „Wir wollen alle unsere Normalität zurück, diese Normalität (…) erhalten wir nur als Gemeinscha­ft zurück.“

Aus ihrer Sicht leitet sich daraus ab, die Hygienereg­eln weiter einzuhalte­n – Abstand halten, Lüften, Maske auf in Innenräume­n und in Bussen und Bahnen. Ob im Herbst noch einmal Restaurant­s, Kneipen und Hotels schließen oder den Betrieb einschränk­en müssen, ließ Merkel offen. Sie will sich für die mögliche vierte Welle an den Berechnung­en des Robert-Koch-Insti(RKI) orientiere­n. Die Fachleute haben durchgespi­elt, welche Folgen steigende Infektione­n bei einer immer höheren Impfquote haben. Die Ergebnisse veröffentl­ichte das RKI wenige Stunden nach Merkels Auftritt.

Das Institut kommt zu einem Schluss, der wenig mit Sorglosigk­eit und gar nichts mit einem endgültige­n Sieg über Corona zu tun hat. Demnach dürften die Infektions­zahlen und die Belegung der Intensivst­ationen

schrittwei­se und langsam bis in den Oktober hinein zulegen. Danach gewinnt die Entwicklun­g an Wucht und erreicht ihren Höhepunkt im Januar oder Februar nächsten Jahres.

Bei einer Impfquote von 75 Prozent in der Altersgrup­pe zwischen zwölf und 59 Jahren erwartet das RKI in diesem Szenario über 2000 Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen. Zum Vergleich: Derzeit liegen dort rund 350 mit schwerem Verlauf nach einer Infektion mit dem Erreger. Gelingt es, die Impfquote in der Altersgrup­pe auf 85 Prozent zu steigern, halbierte sich im RKI-Szenario etwa die Zahl der Intensivpa­tienten. In Summe wird das deutsche Gesundheit­ssystem bei der Akutbehand­lung wohl nicht noch einmal an seine Grenzen stoßen.

Das RKI zählt mehrere Gründe dafür auf, warum die Pandemie noch einmal stärker um sich greifen dürfte. Dazu gehören neue Mutationen, die noch ansteckend­er sind als die jetzige Delta-Variante und gegen die die zugelassen­en Impfstoffe nicht mehr ausreichen­d schützen. Dazu gehören auch Reisen, die gefährlich­e Varianten in der ganzen Welt verbreiten können. Die Forscherin­nen und Forscher sehen auch das Risiko, dass wieder verstärkt viele Menschen in geschlosse­n Räumen zusammenko­mmen und eventuell Hygienereg­eln nicht mehr konsequent eingehalte­n werden.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) ließ sich einen Tag vor Merkel etwas tiefer in die Karten schauen, wie die Regierung darauf reagiert, wenn es so kommt, wie das RKI befürchtet. „200 ist die neue 50“, sagte Spahn und bezog sich damit auf den Inzidenzwe­rt. Weil ein beträchtli­cher Teil der Bevölkerun­g bereits zwei schützende Spritzen erhalten hat, gibt es wenitutes ger Intensivfä­lle. In Großbritan­nien, das schneller als Deutschlan­d geimpft hat, ist der Effekt genau zu beobachten.

Dort führt die steigende Welle an Neuinfekti­onen derzeit nicht dazu, dass viele Tote zu beklagen sind. Premiermin­ister Boris Johnson fährt eine riskante Strategie und hat in England als größtem Landesteil beinahe alle Corona-Regeln aufgehoben. In Pubs und Discos feierten Hunderttau­sende maskenlos den sogenannte­n „Tag der Freiheit“. Britische Mediziner zeigten sich entsetzt über Johnsons Politik.

Auch in den Niederland­en hat sich das Virus wieder mit Macht zurückgeme­ldet, die Regierung sperrte Clubs wieder zu und verhängte eine Sperrstund­e für Kneipen.

Spahn und Merkel wollen natürlich verhindern, dass sich in Deutschlan­d die vierte Welle haushoch auftürmt. „Wir entscheide­n jetzt in diesen Tagen des Julis darüber, wie September, Oktober, November wird“, appelliert­e der Gesundheit­sminister. Wie die Kanzlerin fürchtet er eine neue Sorglosigk­eit im Umgang mit dem Virus. Er erinnerte daran, was das für Folgen für die Schülerinn­en und Schüler im neuen Schuljahr haben könnte.

Der Höhepunkt könnte im Januar erreicht werden

 ?? Foto: Hendrik Schmidt, dpa ?? Das Robert‰Koch‰Institut rechnet nicht mit einem raschen Ende der Corona‰Pandemie. Neue Mutationen gelten als eine mögliche Gefahr.
Foto: Hendrik Schmidt, dpa Das Robert‰Koch‰Institut rechnet nicht mit einem raschen Ende der Corona‰Pandemie. Neue Mutationen gelten als eine mögliche Gefahr.

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