Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Horror im Leichenkeller
Olivier Tambosi inszeniert die selten gespielte Oper „Nero“. Er zeichnet ein Psychogramm des grausamen Römerkaisers und setzt ein bildgewaltiges Karussell des Irrsinns in Gang. Doch nicht alles überzeugt
Bregenz Arrigo Boito dürfte nicht jedem Opernfan bekannt sein – obwohl er oder sie schon viel von ihm gehört haben dürfte. Immerhin hat der Italiener die Libretti für die Verdi-Klassiker „Otello“und „Falstaff“geschrieben. Der Dichter komponierte aber auch. Seine Oper „Mefistofele“hält sich sogar bis heute in Spielplänen. An einem weiteren abendfüllenden Musiktheater mit dem Titel „Nerone“arbeitete er fast sein ganzes Leben lang. An dessen Ende, 1918, hatte er die Oper, die ein beispielhaftes Meisterwerk werden sollte, noch immer nicht ganz vollendet. Erst sechs Jahre später führte Arturo Toscanini das von ihm und anderen fertiggestellte Fragment in vier anstatt der ursprünglich fünf geplanten Akte an der Mailänder Scala erstmals auf.
Wie „Nero“klingt, kann man nun in Bregenz hören. Das Festival bleibt sich treu und hat für die Auftaktoper im Festspielhaus Boitos Geschichte über den schillernden römischen Kaiser Nero aus der Versenkung geholt – was in den vergangenen 70 Jahren nicht oft geschehen ist. Aber als reine Ruhmestat in ihrer Raritäten-Reihe können die Bregenzer diese Inszenierung unter der Regie von Olivier Tambosi und der musikalischen Leitung von Dirk Kaftan nicht verbuchen. Zwar bringt Tambosi das Psychogramm des durchgeknallten Despoten bildgewaltig und mit einem starken Sängerensemble auf die Bühne. Aber in seiner Dreistunden-Interpretation ist vieles symbolisch überfrachtet bis hin zum Kitsch. Kein Wunder, dass der österreichische Regisseur, den Intendantin Elisabeth Sobotka immer wieder gern nach Bregenz holt, am Ende wenig Applaus und sogar einige Buhrufe erntete.
Die Musik kam dagegen viel besser an. Sie ist vielleicht die größte Überraschung dieser versuchten Wiederentdeckung. Dirigent Dirk Kaftan nennt sie zu Recht „suggestiv und verführerisch“. Arrigo Boito hat eine gediegene, farbenfrohe Komposition geschrieben für eine
Geschichte mit viel Leid, Blut und Tod. Kaftan, von 2009 bis 2014 Generalmusikdirektor in Augsburg und nun in selbiger Funktion in Bonn tätig, lässt die Funken sprühen bei dieser (spät-)romantischen Musik, die vom Geigensäuseln bis zum Tubadonner unzählige Facetten bietet.
Regelrecht explosiv intoniert er sie mit den Wiener Symphonikern und dem Prager Philharmonischen Chor. Das Vokalensemble, Stammgast in Bregenz und auch bei der Seeoper „Rigoletto“in Aktion, singt sensationell klar, dynamisch und ausdrucksstark. Kein Wunder, dass 50 Sängerinnen und Sänger zusammen mit den Wiener Symphonikern, die zum 75. Mal bei den Bregenzer Festspielen für den Orchesterklang sorgen, den größten Premieren-Beifall erhielten.
Dabei gibt es am Schluss zunächst keinen Grund zum Jubel. Bedrückend düster endet die Oper. Rom steht in Flammen, die frühen Christen sind gemeuchelt. Nero schaut von einem dicken Ledersessel aus fast gelangweilt dem Untergang der Stadt und dem Sterben der Menschen im Leichenkeller des Circus Maximus zu. Er hat zuvor einen tödlichen Furor entfesselt. Die Bilder, die Olivier Tambosi zusammen mit Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann dazu findet, sind überwältigend grauenvoll. Sie erinnern an Endzeit-Kino mit Horror-Elementen.
Arrigo Boito geht es einerseits um einen bedeutenden geschichtlichen Bruch, der sich zur Zeit Kaiser Neros im ersten Jahrhundert andeutet. Die neue Gemeinschaft der Christen nistet sich in der Hauptstadt des Römischen Weltreichs ein, das (noch) einer traditionellen Götterwelt huldigt. Die friedliche Religion gerät in Konfrontation zur gewalttätigen Dekadenz des Imperiums. Andererseits lässt er vor diesem Hintergrund ein Personal auftreten, das die Bandbreite menschlicher Eigenschaften inklusive ihrer Abgründe spiegelt. Zeit seines Lebens hat den Dichter Boito die Zerrissenheit des
Menschen zwischen den Polen Gut und Böse beschäftigt und fasziniert. In der Oper spielt er dies beispielhaft durch. Da ist der sadistische Nero, der morden lässt und selbst schändet, aber als Einfaltspinsel und Angsthase mit kindlichem Gemüt auch eine groteske Figur abgibt. „Das Ungeheuerliche ist das Schöne“, ruft er bei einer seiner Schandtaten und genießt mit perversem Vergnügen das Treiben.
Der absolut Böse ist jedoch nicht der römische Kaiser, sondern Simon Mago (Lucio Gallo): Der bizarre Intrigant möchte mephistoartig die Fäden ziehen, verheddert sich darin aber. Auf der anderen Seite sind die
Guten: der Christenführer Fanuèl (Brett Polegato) und die junge Rubria (Alessandra Volpe), die ihm folgt, aber heimlich noch eine heidnisch-römische Vestalin ist. Eine schillernde Figur ist schließlich Asteria (Svetlana Aksenova), eine verzweifelte, masochistisch veranlagte Frau, die besessen ist von Nero und die sich in mehrerlei Weise missbrauchen lässt.
Wer solch ein Panoptikum des (Un-)Menschlichen ins Musiktheater bringt, braucht nicht nur ausdrucksstarke Stimmen, sondern auch großartige Darsteller. Dafür haben die Bregenzer – wieder eindie mal – ein erstklassiges Ensemble gefunden. Mit ihm setzt Regisseur Tombosi ein Karussell des Irrsinns in Bewegung – im wahrsten Sinn des Wortes. Denn mithilfe der fast permanent laufenden Drehbühne öffnet und schließt er dauernd neue Räume mit verblüffenden Perspektiven. Irgendwann aber läuft sich dies ein Stück weit tot – genauso wie etliche andere Einfälle unverständlich oder ärgerlich geraten. Arg rührselig-pathetisch etwa versammeln sich die Christen zum Gebet. Und die Reizüberflutung mit symbolisch aufgeladenen Bildern führt zu einer visuellen Übersättigung. Der szenische Effekt, den Tambosi so liebt, ist bisweilen völlig losgelöst vom Text. Da wäre weniger mehr, anderes besser.
Erhält „Nero“mit dieser Inszenierung nun einen Schub, um künftig öfter gespielt zu werden? Aktuell wäre der Stoff gewiss angesichts der Diktatoren und Autokraten weltweit, der Verwerfungen und Grausamkeiten. Aber vielleicht ist Boitos Werk doch zu viel Psychogramm und zu wenig Drama, zu abstraktpoetisch und zu wenig stringent. Zudem fehlt ein Ohrwurm – was all die Opernhits von Mozart, Verdi, Rossini oder Puccini auszeichnet.
Augsburgs ExGMD Dirk Kaftan dirigiert
Die Drehbühne öffnet dauernd neue Räume
Weitere Aufführungen Am 25. Juli um 11 Uhr und am 2. August um
19.30 Uhr. Karten gibt es unter Telefon 0043/5574/4076 sowie online unter www.bregenzerfestspiele.com