Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Benedikt XVI. rechnet mit der Kirche ab
Der frühere Papst wirft Amtsträgern vor, nicht das Herz sprechen zu lassen. Warum Kritiker wegen seiner Äußerungen alarmiert sind
München/Freiburg Der emeritierte Papst Benedikt XVI. geht mit Amtsträgern der katholischen Kirche in Deutschland ins Gericht. „Solange bei kirchenamtlichen Texten nur das Amt, aber nicht das Herz und der Geist sprechen, solange wird der Auszug aus der Welt des Glaubens anhalten“, schreibt er in Antworten auf Fragen der Herder Korrespondenz, die die Zeitschrift in ihrer neuen Ausgabe veröffentlichen will. Er erwarte „ein wirkliches persönliches Glaubenszeugnis von den Sprechern der Kirche“.
Benedikt kritisierte: „In den kirchlichen Einrichtungen – Krankenhäusern, Schulen, Caritas – wirken viele Personen an entscheidenden Stellen mit, die den inneren Auftrag der Kirche nicht mittragen und damit das Zeugnis dieser Einrichtung vielfach verdunkeln.“
Amtliche Texte der Kirche in Deutschland würden weitgehend von Leuten geschrieben, „für die der Glaube nur amtlich ist“, schreibt der frühere Kardinal Joseph Ratzinger. „In diesem Sinn muss ich zugeben, dass für einen Großteil kirchenamtlicher Texte in Deutschland in der Tat das Wort Amtskirche zutrifft.“
Im Herder-Interview betonte Ratzinger, „dass zur Kirche nun einmal Weizen und Spreu, gute und schlechte Fische gehören. Es konnte also nicht darum gehen, Gutes und
Schlechtes voneinander zu trennen, wohl aber darum, Gläubige und Ungläubige voneinander zu scheiden.“
Kritiker bewerten Aussagen des 2013 zurückgetretenen Papstes zur Kirchenpolitik immer wieder missbilligend, weil sie befürchten, er könne von konservativen Kräften in der katholischen Kirche als Gegenpapst zum amtierenden Franziskus in Stellung gebracht werden. Die Reformbewegung „Wir sind Kirche“wirft dem emeritierten Papst auch diesmal vor, sich in kirchenpolitische Angelegenheiten einzumischen. „Bei allem Respekt vor seiner Lebensleistung finden es viele Gläubige verstörend, dass Joseph Ratzinger zum wiederholten Male sein Wort bricht, ‚verborgen vor der Welt zu leben‘, das er bei seinem Rücktritt gegeben hatte“, sagte „Wir sind Kirche“-Sprecher Christian Weisner. „Wenn er konkret ,die Amtskirche‘ kritisiert, meint er wohl in erster Linie die Kollegen Bischöfe in Deutschland“, sagte Weisner. Aus seiner Sicht ist die „Gefahr groß, dass konservative Kräfte in der katholischen Kirche dies auch als Festhalten am Priesterbild der damaligen Zeit lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil deuten“. Auch den Zeitpunkt der Veröffentlichung findet er bemerkenswert: „Es mag Zufall sein“, sagt er, dass das Gespräch veröffentlicht wird, kurz nachdem Benedikts Nachfolger Franziskus seine Entscheidung veröffentlicht hat, die lateinische Messe nur unter Auflagen zu erlauben, und damit eine Entscheidung seines Vorgängers kassierte.
Benedikt XVI. distanziert sich in dem Interview außerdem von Aussagen aus seiner „Freiburger Rede“. Darin hatte er eine „Entweltlichung“der katholischen Kirche gefordert. „Ob das Wort ,Entweltlichung‘, das aus dem von Heidegger gebildeten Wortschatz stammt, in Freiburg als abschließendes Stichwort von mir klug gewählt war, weiß ich nicht“, schreibt er. In der Rede zum Abschluss seines Deutschland-Besuchs 2011 hatte Benedikt die „zunehmende Distanzierung beträchtlicher Teile der Getauften vom kirchlichen Leben“festgestellt. Die Kirche müsse darum „immer wieder auf Distanz zu ihrer Umwelt gehen, sie hat sich gewissermaßen zu ‚ent-weltlichen‘“. Und: „Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von der Weltlichkeit der Welt lösen“, sagte er damals.