Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Angeblich ein netter Kerl
Der Engländer Adam Peaty geht als großer Favorit über die 100 Meter Brust an den Start. Die Konkurrenz pirscht sich heran und nach dem Rennen wird der Brite emotional
Tokio Angeblich ist dieser Adam Peaty ein ganz netter Kerl. Seit kurzem Familienvater. Auf seinem Instagram-Profil postet er gerne Bilder von sich und Söhnchen Boomer. Ab und zu ein schnelles Auto und immer wieder Werbung für seine Schwimmschule. Kaum zu glauben, wenn man ihn nach dem Finale über 100 Meter Brust sah. Da riss sich der Muskelberg mit den tätowierten Armen die rote Plastikkappe vom Kopf, nur um darunter einen kahl rasierten Schädel zu entblößen. Dazu blickte er ziemlich grimmig drein, während die Adern an den Schläfen wild pulsierten.
Es war dem 26-jährigen Briten mehr als deutlich anzusehen, welch Last ihm von den Schultern fiel, als er auf der Anzeigentafel hinter seinem Namen die 1 aufleuchten sah. Wie schon 2016 holte er auch in Tokio Gold auf seiner Lieblingsstrecke, die er seit 2014 dominiert. Seitdem hat er bei Großereignissen kein Rennen verloren. Die zehn schnellsten jemals geschwommenen Zeiten hat er geliefert, bis vor kurzem waren es sogar die ersten 20.
Dann kam der Niederländer Arno Kamminga und schickte sich an, die Dominanz zumindest infrage zu stellen. Der US-Amerikaner Michael Andrew pirschte sich ebenfalls heran und plötzlich schien Peaty nicht mehr unschlagbar. All jenen, die das dachten, erteilte er in Tokio eine Lehrstunde. In seiner unvergleichlichen Art prügelte er sich durch das Becken des riesigen Tokyo Aquatics Centre. Die Halle wurde im vergangenen Jahr fertiggestellt, kostete satte 44 Millionen Euro und fasst 16000 Zuschauer. Wie alle anderen Sportstätten stand aber auch sie leer, als Peaty sich nach dem Anschlag und der ersten Erregung wieder beruhigt hatte.
Nur selten zuvor war ein Schwimmer als größerer Favorit in ein olympisches Finale gegangen. Das ist Segen und Fluch zugleich, denn natürlich ist der Favoritenstatus immer das Ergebnis überzeugender Vorleistungen. Gleichzeitig lädt er aber auch einen gewaltigen Druck auf die in diesem Fall glücklicherweise sehr breiten Schultern des Sportlers. Einmal mehr trotzte Peaty diesem Druck und ließ sich nicht in die Knie zwingen. Seine Siegesserie hielt. Wie kein anderer hat er auf den kurzen Bruststrecken das Limit verschoben. Seine außergewöhnliche Technik basiert auf der Fähigkeit, mit einer extrem hohen Frequenz zu schwimmen. Das kostet extrem viel Kraft und setzt einen Beinschlag an der Grenze des Delfinkicks voraus.
Bis Kaminga in dieser Saison erstmals unter 58 Sekunden blieb, gab es auf keiner anderen Strecke einen größeren Abstand zwischen dem Weltrekord und der nächstbesten Zeit eines anderen Schwimmers. Niemand ist bislang auch nur in die Nähe von Peatys Bestzeit (56,88 Sekunden) gekommen. Zum Vergleich: Der deutsche Rekord von Fabian Schwingenschlögl, der im Halbfinale ausschied, steht bei 58,95 Sekunden.
Allerdings kam in Tokio auch Peaty selbst seiner Bestzeit nicht allzu nahe. Ihm fehlte rund eine halbe Sekunde. Diese Feinheit allerdings konnte Peaty an diesem Montagvormittag nicht die Stimmung verhageln. Er habe sich seit 2016 nicht mehr so gut gefühlt, sagte er in die Kameras, und die Adern an den Schläfen pochten wieder gemächlich im Sekundentakt. So entspannt, wirkte er dann auch gar nicht mehr wie der Krieger, zu dem er sich selbst im Schwimmbecken gerne ernennt. Eher wie ein riesiger Teddybär mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Trotzdem folgt nun die jugendfreie Übersetzung seiner Zitate, die im Original das ein oder andere F-Wort enthielten: „Es ging darum, wer es mehr wollte. Ich bin so verdammt erleichtert.“Um dann sofort hinzuzufügen: „Verzeihen Sie mir das Fluchen, aber ich bin gerade sehr emotional.“
Schon im Vorfeld des Finales hatte er deutliche Worte gefunden. Es fühle sich nicht an wie Olympische Spiele, sagte er nach den Vorläufen. Ohne Zuschauer fühle sich das eher wie ein Trainingswettkampf an. Peaty gilt als Experte darin, die Energie einer vollen Halle aufzusaugen und in Leistung umzusetzen. Für den hoch spezialisierten Brustschwimmer waren die 100 Brust der einzige Einzelstart. Allerdings gilt die britische Lagenstaffel am letzten Tag der Schwimmwettbewerbe als Medaillenkandidat. Und in der schwimmt, natürlich, auch Peaty.