Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Renovierte Erinnerungen
Hätte es den Krieg nicht gegeben, wäre Tokio schon 1940 erstmals Gastgeber gewesen. Nur wenige wissen, dass einige Spielstätten, die damals eingeplant waren, noch heute stehen. Zum Beispiel die Reitanlage
Tokio Als am letzten Freitag die ersten Pferde über den Sand des Baji Koen schritten, war allen Beteiligten die Zufriedenheit anzumerken. Die sensiblen Tiere schienen sich gut zu fühlen. Und auch die menschlichen Sportler schwärmten: „Eine tolle Anlage“, war zu hören, oder: „alles so neu hier!“Immerhin hatte der Reitpark im westlich gelegenen Tokioter Bezirk Setagaya über mehrere Jahre lang seine Tore geschlossen. Eine Generalüberholung sei nötig gewesen, fand das olympische Organisationskomitee.
Denn die weiträumige Anlage, auf der im Rahmen der Spiele von Tokio die Pferdesportveranstaltungen stattfinden, gehört zu den sogenannten „legacy venues“, jenen Spielstätten also, die bereits vor der Tokioter Bewerbung für die eigentlich für 2020 geplanten Spiele vorhanden waren. Wie mehrere andere Stadien gehörte der Reitpark schon 1964, als Japans Hauptstadt erstmals die Olympischen Spiele veranstaltete, zu den Spielstätten. So wird vom japanischen Reitsportverband, dem Organisationskomitee und japanischen Medien gern betont, wie historisch dieser Ort ist.
Wobei wenige wissen, wie historisch er wirklich ist. Was man auf der Anlage, wo dieser Tage auch Goldmedaillen vergeben werden, kaum herausfinden wird: Diese Anlage existierte schon im Jahr 1940. Denn bereits damals hätte Tokio das werden sollen, was es schließlich 1964 war: die erste asiatische Gastgeberstadt der größten Sportveranstaltung der Welt. Da Japan in den 1930er Jahren aber einen Invasionskrieg im Pazifik führte, gab Tokio das 1936 in Berlin gewonnene Austragungsrecht zwei Jahre später wieder zurück. Die Waffenindustrie forderte das für die Stadionbauten eingeplante Metall ein. Die für den Sport gedachten Pferde brauchte die Kavallerie.
Historiker bezeichnen „Tokyo 1940“heute als „maboroshii orinpikku“, die Phantomspiele. Denn während sie nie stattgefunden haben, ist ihr Erbe doch vorhanden. Es ist nur weitgehend unbekannt. „An 1940 denkt hier sicherlich niemand“, sagt Torsten Weber, Historiker am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio. „Egal, an welcher Sportstätte man vorbeigeht und was man in der Stadt mit Olympia in Verbindung bringt: Es ist klar, dass der Bezug immer wieder zu 1964 hergestellt wird.“
Schließlich lässt sich mit den Spielen „Tokyo 1964“die wesentlich angenehmere Geschichte erzählen. 19 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der für Japan mit zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki sowie Luftangriffe auf die meisten Großstädte geendet hatte, markierte Tokio damals die unmittelbare Nachkriegszeit für beendet. Japan war als hochmoderne Industrienation mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen und neuen Flughäfen wieder aufgebaut. Die sportlichen Wettkämpfe, bei denen sich Japan als weltoffen präsentierte, wurden erstmals weltweit live per Satellit übertragen.
Über die Spiele von 1964 weiß in Japan jedes Kind Bescheid. Von jenen, die für das Jahr 1940 geplant gewesen waren, hat dagegen längst nicht jeder Erwachsene gehört. „Es ist einfach ein sehr unangenehmes Thema“, sagt Takuji Hayata, der im Jahr 1940 geboren wurde und 1964 als Turner an den Ringen und im Mannschaftsmehrkampf Gold für Japan holte. Später wurde Hayata Lehrer und erinnert sich: „Über 1940 wissen die Menschen wenig. Aber sie sollten darüber Bescheid wissen. Unter anderem deshalb, weil Japan damals Krieg geführt hat. Und daher durfte Japan 1948 in London, bei den ersten Olympischen Spielen nach dem Krieg, auch nicht teilnehmen.“
Hinzu kommt: Hätte es die Pläne für die Phantomspiele nicht gegeben, gäbe es einige der Bauwerke, die heute in Tokio stehen, wohl auch nicht. Für die Spiele 1940 fertiggestellt wurden ein Bootskurs in Toda zwischen Tokio und Saitama sowie die letztlich für die Spiele 1964 und derzeit erneut genutzte Reitanlage in Setagaya. Hinzu kommt eine Schießanlage in Tokio, die allerdings nie olympisch eingeweiht wurde.
Aber auch jenseits der Sportstätten hat „Tokyo 1940“die größte Metropole der Welt geprägt. „Da ist zum Beispiel die sogenannte FünfFarben-Brücke
Der Reitsportverband betont, wie historisch der Ort ist
im Zentrum der Stadt, eine wichtige Autobrücke, die über einen Fluss und eine große Straße führt“, sagt der Historiker Torsten Weber. Die fünf Farben sollen für die olympischen Ringe stehen. Aber ein an der Brücke angebrachtes Schild führe die Öffentlichkeit in die Irre, so Weber. „Da steht, sie wurde 1962 gebaut für 1964. Aber ursprünglich wurde sie schon 1938 errichtet für 1940.“
Doch sowohl bei der Fünf-Farben-Brücke als auch im Reitpark in Setagaya und sonst wo in Tokio: Wenn von „Legacy“die Rede ist, also der historischen Hinterlassenschaft, wird das unangenehme Kapitel um den Zweiten Weltkrieg gern vergessen. So ist es auch auf der Website des japanischen Reitsportverbands, der den nun für Olympia renovierten Reitpark Baji Koen betreibt. Zur Geschichte der Anlage steht dort: „Gebaut 1940, um Pferdesport zu fördern. 24 Jahre später hatte er das Privileg, einige Wettkämpfe der Olympischen Spiele zu veranstalten.“Von den ursprünglichen Olympia-Plänen, die sich wegen eines Kriegs nie realisierten, kein Wort.
Der Zweite Weltkrieg wird nur ungern erwähnt