Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Schlecht abgeschirmt
Boris Johnson erlebt Mr.-Bean-Moment
London Prinz Charles ist ein Mann der alten Schule. Als Mitglied der britischen Königsfamilie hat der heute 72-Jährige von Geburt auf gelernt, stets Haltung zu bewahren, nie die Contenance zu verlieren. Doch mit einem Mann wie Boris Johnson an seiner Seite stößt auch ein routinierter Royal an seine Grenzen. Während der Einweihung eines Denkmals nimmt es der Premierminister mit einem widerspenstigen Regenschirm auf. Der Schirm gewinnt, der Kronprinz lacht herzhaft und Johnson hat wieder einen Platz im Jahresrückblick sicher.
Die Szene, die der legendären britischen Serie „Mr. Bean“alle Ehre gemacht hätte, beginnt eigentlich relativ harmlos. Der Prinz und der Premier sitzen nebeneinander im Regen. Das ist nichts Ungewöhnliches auf der Insel. Während Charles bereits bestens beschirmt alle Unbill an sich abperlen lässt, versucht es Johnson zunächst oben ohne. Erst spät greift er zum Schirm – und die Pannenserie nimmt ihren Lauf.
Zunächst sucht der Politiker lange vergeblich und zum Amüsement der anderen Gäste nach einem Knopf oder einem anderen Trick, mit dem man dieses verflixte Ding aufspannen könnte. Als er es endlich geschafft hat, bietet er den Regenschutz – ganz Gentleman – seiner grinsenden Innenministerin Priti Patel an. Doch ein Windstoß klappt ihn nach oben und lässt den Regierungschef wieder im Regen sitzen. Das ist dann auch der Moment, in dem Prinz Charles endgültig die Beherrschung verliert. Während handwerkliches Geschick offenbar nicht zu Johnsons Stärken gehört, verfügt der Premier dafür über eine Menge Humor. Und so muss er über seinen Mr.-Bean-Moment letztlich selbst am meisten lachen.
gleich hatte Präsident Kais Saied Ministerpräsident Hichem Mechichi abgesetzt, das Parlament beurlaubt und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben. Mit bangem Blick stellt sich nicht nur der Westen die Frage: Wohin steuert Tunesiens Demokratie? Die Europäische Union rief zur Wahrung der Demokratie auf. Auch die USRegierung forderte Saied auf, die „Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte“zu achten.
Der Zeitpunkt der Krise ist kein Zufall. Das Land steckt in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, seit Tagen kommt es immer wieder zu Protesten. Die Zahl der CoronaInfektionen steigt, die Impfungen kommen nur sehr langsam voran. „Die Corona-Pandemie, insbesondere die Entwicklungen der letzten Monate mit der Überlastung des tunesischen Gesundheitssystems, haben als Brandbeschleuniger für die gesellschaftliche Unzufriedenheit in der Bevölkerung gewirkt, die allerdings nicht neu ist“, sagt Lukas Kupfernagel, Referent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung, unserer Redaktion. „Die wirtschaftliche Lage ist, gepaart mit dauerhaften politischen Grabenkämpfen, zunehmend problematisch für große Teile der Bevölkerung.“
Die politische und gesellschaftliche Gemengelage ist verworren. Insbesondere säkulare Akteure würden in der islamisch-konservativen
Ennahda, die die größte Fraktion im Parlament ist, den Hauptschuldigen an der Misslage sehen. Die letzten Monate hätten sich der parteilose Staatspräsident Saied, Premierminister Mechichi (unabhängig) und Parlamentspräsident Ghannouchi (Ennahda) gegenseitig blockiert. Möglich macht das eine komplizierte Verfassung, die dem Präsidenten weitreichende Rechte zugesteht. „Nachdem Premierminister Mechichi den bisherigen, auch dem Präsidenten nahestehenden Gesundheitsminister Faouzi Mehdi wegen der schlechten Gesundheitslage entlassen hatte und es am Tag der Republik vor allem in den Großstädten zu Protesten gegen die aktuelle Regierung kam, berief sich Staatspräsident Saied auf Artikel 80 in der tunesischen Verfassung, der ihm erlaubt, bei immanenter Gefahr für den Staat das Parlament zu entund 30 Tage lang exekutiv zu regieren“, erklärt Kupfernagel die Hintergründe. Nicht alle im Land glauben allerdings, dass die Aktion juristisch wasserdicht ist. Parlamentspräsident Ghannouchi hat erklärt, Saied habe sich, anders als vorgeschrieben, nicht vorab mit ihm beraten. Klären könnte den Streit ein Verfassungsgericht, dessen Gründung wegen eines Konflikts über die Richter-Zusammensetzung aber immer noch aussteht.
Umfragen zeigen, dass die Tunesierinnen und Tunesier mit großer Mehrheit hinter dem Präsidenten und der Entlassung des Ministerpräsidenten stehen. Vor allem sein Kampf gegen die Korruption ist es, der Saied zu hohem Ansehen verhilft – ein Problem, das beinahe alle Bereiche des Landes ergriffen hat und zum Mühlstein für den Fortschritt wird. Die Reformen, die nach dem Sturz von Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali im Jahr 2011 versprochen waren, kommen kaum voran. Neun Regierungen versuchten in den vergangenen zehn Jahren das vermeintliche Musterland zu regieren – manche davon nur wenige Monate. Der Euphorie folgte eine große Ernüchterung. Millionen Familien leben oft über Generationen am Existenzminimum. Viele schlagen sich ein Leben lang als Tagelöhner oder mit Jobs im informellen Sektor durch. Selbst ein Universitätsabschluss endet für 30 Prozent in der Sackgasse Arbeitslosigkeit. Noch immer verlassen vor allem junge Menschen das Land, um im Westen ihre Zukunft zu suchen.
Die Erwartungen, die nun in Saied gesetzt werden, sind also gigantisch. Unklar ist, wohin er das Land führen will. Viele fühlen sich erinnert an Präsident Abdel Fattah almachten
auf den Artikel 80 der Verfassung berufen, der ihm gewisse Sonderrechte zugesteht. „Das ist verfassungsrechtlich umstritten“, sagt Kupfernagel. „Insofern ist das, was passiert ist, in jedem Fall ein Rückschlag. Anstatt die Konflikte mit demokratischen Mitteln zu lösen, hat Staatspräsident Saied einen Weg außerhalb demokratischer Verfahrensweisen gewählt, um gegen die immensen Probleme des Landes vorzugehen.“Inzwischen habe er angekündigt, sich an die 30 Tage halten zu wollen, einen neuen Premierminister einzusetzen und die Prozeduren einhalten zu wollen. „Vor allem beginnt er mit einer Antikorruptionskampagne und hat dutzende hochrangige Regierungsbeamte bereits des Amtes enthoben“, sagt Kupfernagel.
Für ihn stellt sich vor allem eine Frage: Was kommt danach? „Schaffen es die Parteien durch diese Vorkommnisse, sich neu zu sortieren und sich langfristig das Vertrauen der Bevölkerung zurückzuholen? Wie findet sich Ennahda unter dem zunehmenden Druck zurecht und wie wird sich der anstehende Kampf um den Parlamentarismus weiterentwickeln?“, fragt er. Das sei allerdings keine Frage von Tagen oder Wochen, sondern werde möglicherweise Jahre in Anspruch nehmen. Und trotzdem bleibt er optimistisch: „Von einem Rückfall in eine Diktatur ist nicht auszugehen.“