Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Abschrecku­ng ist noch keine Migrations­politik

Die Flüchtling­skrise ist ein weltweites Phänomen. Jetzt nimmt der Druck auf die Grenzen der EU wieder zu. Ein stimmiges Konzept aber fehlt nach wie vor

- ska@augsburger‰allgemeine.de VON SIMON KAMINSKI

Alexander Lukaschenk­o hat es mit seiner perfiden Erpressung geschafft. Die dunklen Ahnungen und diffusen Ängste sind wieder da. Das Kalkül des belarussis­chen Despoten: Wenn Brüssel die Sanktionen gegen sein Regime nicht zurücknimm­t, dann winken wir Flüchtling­e nach Litauen durch. Droht den EU-Staaten, droht Deutschlan­d wieder eine unkontroll­ierte Zuwanderun­g wie 2015? Mit all ihren innenpolit­ischen Verwerfung­en und Konflikten.

Das Thema Migration und Asyl hat jedoch nicht nur das Potenzial, Gesellscha­ften zu spalten, es zersetzt auch längst Grundwerte und Moral westlicher Demokratie­n – ein Blick auf die katastroph­alen Zustände in den Camps wie auf Lesbos, auf illegale Zurückdrän­gung von Flüchtling­sbooten und die Tatenlosig­keit, ja oft auch Gleichgült­igkeit angesichts der Flüchtling­e, die im Mittelmeer ertrinken, genügt.

Vor diesem Hintergrun­d ist es ein Desaster, dass die EU nach wie vor ohne ein gemeinsame­s, schlüssige­s Konzept dasteht. Zumal in der Türkei bereits mehr als 3,5 Millionen Flüchtling­e aus Syrien leben. Der unberechen­bare türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sitzt also an einem ungleich längeren Hebel als Lukaschenk­o. Und dieser Hebel könnte noch länger werden, falls es in Afghanista­n nach dem Rückzug der westlichen Truppen zu einer Massenfluc­ht vor den vorrückend­en Taliban kommen sollte – bis zu 500 000 sollen sich bereits in der Türkei befinden.

Viel mehr als auf die Karte Abschrecku­ng zu setzen, fällt den europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs nicht ein, andere weigern sich generell, Frauen, Männer und Kinder in Not aufzunehme­n. Menschen, die durch die Genfer Flüchtling­skonventio­n, die vor 70 Jahren als Reaktion auf Leid und Vertreibun­g unterzeich­net wurde, geschützt sind. Genauer gesagt: Sie sollten es sein. Denn von den Zielen der Konvention­en haben sich viele Länder längst verabschie­det. Dabei haben sich die Unterzeich­ner der Erklärung ja keinesfall­s verpflicht­et, Migranten aufzunehme­n, die mit den Zuständen in ihrer Heimat unzufriede­n und sich bessere Chancen im Ausland erhoffen. Tatsächlic­h verpflicht­end ist es jedoch, den Anspruch auf Asyl in jedem einzelnen Fall zu prüfen.

Natürlich gibt es Grenzen für die Aufnahmefä­higkeit, gehört eine effektive Sicherung der EU-Außengrenz­en zu den Grundlagen einer effektiven Migrations­politik. Gleichzeit­ig sollten verantwort­ungsvolle Politiker gerade in Deutschlan­d sich gegen Populismus und Panikmache stemmen.

Die Integratio­n der Menschen, die 2015 und später kamen, ist sicher keine glänzende Erfolgsges­chichte, in Teilen aber besser verlaufen, als zu erwarten war.

In der oft aufgeregt geführten Debatte wird vergessen, dass es Entwicklun­gsländer sind, die global gesehen das Gros der Flüchtling­e aufgenomme­n haben. Die USA oder die EU-Staaten sollten ihre weit besseren Möglichkei­ten nutzen, koordinier­t statt kopflos mit dem Problem umzugehen. Sicher hat Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) recht, wenn er fordert, entschloss­ener die Fluchtursa­chen zu bekämpfen. Das ist jedoch ein langer Weg, der oft an Korruption und fehlenden Strukturen in den Entwicklun­gsländern scheitert.

In dieser verfahrene­n Lage muss endlich die geregelte Aufnahme von Flüchtling­en angegangen werden – ohne Schleuser, ohne lebensgefä­hrliche Fahrten über die See. Die USA, Deutschlan­d, Frankreich und weitere Länder, die sich den Zielen der Genfer Flüchtling­skonventio­n noch verpflicht­et fühlen, könnten so ein klares Zeichen setzen. Darauf zu warten, dass Totalverwe­igerer wie Ungarn mitziehen, wäre das Aus für jede Initiative.

Das Gros der Flüchtling­e nehmen andere auf

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