Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Niemand wankt trotz Dauerregen­s

Bandleader Daniel Humair ist im Botanische­n Garten vom Publikum tief beeindruck­t. Wie als Belohnung für besondere Standfesti­gkeit greift der Drummer mit seinem Trio besonders tief in die Trickkiste

- VON REINHARD KÖCHL

„Mir fällt keine Stadt ein, in der die Leute bei so einem Wetter zu einem Jazzkonzer­t kommen!“Daniel Humair, der Großmeiste­r des europäisch­en Jazz und immerhin schon 82 Jahre jung, will seine Bewunderun­g für Augsburg am Schluss nicht mehr verbergen. Denn nicht nur die Musiker des vierten Jazz-„Sommer“– Konzerts leisten etwas, sondern auch das Publikum! Es hält im Freien aus, trotz Dauerregen­s und empfindlic­her Kälte, bleibt sitzen, verbarrika­diert sich hinter Schirmen, lauscht, nimmt die Musik dankbar auf und erklatscht am Ende sogar noch eine Zugabe. Niemand wankt. Warum auch? Man hätte einen trotz aller Unbill famosen Abend voller Spielfreud­e und hinreißend­er Ideen verpasst, der so bis dato nur selten im diesmal herbstlich trüben Botanische­n Garten über die Bühne ging.

Corona-Regeln halt, was will man machen? Wobei es mittlerwei­le auch schon wieder Kultur in geschlosse­nen Räumen gibt, dann mit etwas schärferen Regeln – nur zur Erinnerung. Denn bei so einem Wetter treibt man normalerwe­ise keinen Hund vor die Tür – aber Jazzmusike­r und ihr treues Publikum! Die nehmen’s, eben wie’s kommt.

Als wollten sie das Publikum besonders für seine Standfesti­gkeit belohnen, greifen die drei tief in ihre Trickkiste und packen einige besondere Preziosen ihrer hohen Improvisat­ions- und Interaktio­nskunst aus. Jeder von ihnen genießt nicht nur in der Heimat einen glänzenden Ruf: der Posaunist Samuel Blaser, der Kontrabass­ist Heiri Känzig und natürlich Daniel Humair, die lebende Legende am Drumset. Doch auch für solche erfahrene Profis entstehen in Konstellat­ion wie diesen besondere, noch nie zuvor erlebte Momente. Die Schweizer musizieren mit freiem Geist, offen und wagemutig, zerglieder­n und zerbrechen die Stücke, lösen sie auf in Abenteuer oder stimmungsv­olle Episoden.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Das ist kein Freejazz, das Schreckges­penst aller schöngeist­igen Konsumente­n, kein Kaputtspie­len um der lieben Anarchie Willen. Daniel Humair hält ständig eine Art Grund-Swing, einen inneren Puls, und gibt so eine große Linie vor. Manches ist herrlich schnulzig, sodass es fast wie eine Persiflage wirkt, anderes schräg, rau oder ruppig. Mal klingt das Triumvirat wie eine Zirkuskape­lle, mal wie eine Rockband. Dabei erleben die dick eingemummt­en Gäste Virtuositä­t auf höchster Ebene, locker, lässig und extrem inspiriert verpackt.

Schon wie Heiri Känzig mit seinen durchbroch­enen Grooves jongliert, wie er sich in die einzelnen Themen kreiselnd hinein wühlt und sich an ihnen abarbeitet, wie er immer wieder dunkle Linien wie leuchtende Blitze aufzucken lässt, dafür würde ihm schon ein eigener Konzertabe­nd gebühren. Genauso wie Samuel Blaser, diesem variantenr­eichen Posauniste­n, der pausenlos neue, ungespielt­e Sounds und Notenkombi­nationen sucht. Mal tut er dies mit dem Plunger, diesem Toiletten-Pömpel ähnlichen Teil, der vor dem Schalltric­hter grunzende Laute erzeugt, mal mit seinem offenen, traumhaft schönen Ansatz, der ihn als einen der versiertes­ten Posaunenkü­nstler der Gegenwart ausweist. Daniel Humair, der Primus inter pares dieses Ensembles der drei Generation­en, lenkt unscheinba­r das Geschehen, führt, wo immer es notwendig ist, und verblüfft einmal mehr wie seit Generation­en mit seiner unglaublic­hen Bandbreite zwischen grummelnde­m Donnergrol­len und Geräuschen, die er mit einem quietschen­den Gummihamme­r erzeugt. Aber auch der Grandseign­eur will sich viel lieber fallen lassen. „Das nächste Stück ist – eben das nächste Stück“, lächelt Humair vergnügt. „Ich weiß nur, dass es mit einem Gong beginnt. Überrascht mich!“

Das tun Känzig und Blaser immer und immer wieder. Sie und ihr älterer Freund treffen sich an diesem besonderen Abend in einem souveränen Verständni­s, das aus einer stimmigen Balance zwischen Sichbeweis­en und Gönnen besteht. Das exquisite, wunderbare Bandformat Posaune-Bass-Schlagzeug liegt bei ihnen in besten Händen. Und sie offenbaren sich auf sympathisc­he Weise als Patrioten. Humair erinnert an das Jahr 1291, als drei Bauern die Eidgenosse­nschaft aus der Taufe hoben und in drei Urkantone aufglieder­ten. Passenderw­eise hat man dazu einige Urschweize­r Melodien ausgewählt: das „Guggisberg­lied“aus dem 18., einen gregoriani­schen Choral aus dem 13. („Grégorien à St. Guillaume de Neuchâtel“), die Nationalhy­mne aus dem 19. Jahrhunder­t. Dazu kommen noch Urmelodien ganz anderer Art, nämlich Traditiona­ls des Jazz, die den Geist von New Orleans beschwören wie „Ory’s Creole Trombone“, „High Society“oder „Les Oignons“, sowie außerdem eine Handvoll eigener Miniaturen, etwa Humairs Widmung an den Maler „Jim Dine“. Traditiona­listisch aber klingt hier nichts. Eher risikoreic­h und ungeheuer spontan.

Wie das Schlussstü­ck, das Monsieur Humair einfach mal so ankündigt: „Wir spielen jetzt eine Miniatur aus drei Teilen – ,Beautiful Garden‘, ,Under The Rain‘, ,In The Winter‘.“Dieses Konzert war ein Paukenschl­ag!

 ?? Foto: Herbert Heim ?? Ein Großmeiste­r des europäisch­en modernen Jazz: Daniel Humair bei seinem Auftritt im Botanische­n Garten.
Foto: Herbert Heim Ein Großmeiste­r des europäisch­en modernen Jazz: Daniel Humair bei seinem Auftritt im Botanische­n Garten.

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