Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die vergessenen Opfer des Holocaust
Erstmals seit Kriegsende gedachte die Stadt des deutschen Völkermords an den Sinti und Roma. Ein Achtungserfolg für eine Minderheit, die auch in Augsburg noch immer um Anerkennung kämpft
Still, erhaben und irgendwie trotzig ruhen die vier Familiengrüfte auf dem Oberhauser Nordfriedhof in der Sonne. In den glänzenden Marmorplatten spiegeln sich die Bäume. Es ist der 2. August, seit 2015 ein EUweiter Gedenktag zum Völkermord an den Sinti, Roma und Reisenden. In der Nacht auf den dritten August 1944 wurden in Auschwitz nach langen Kämpfen die letzten verbliebenen 4200 Sinti und Roma von der SS ermordet. Erstmals erinnerte die Stadt Augsburg offiziell mit einer Gedenkfeier an diesen Völkermord, dessen Überlebenden nach dem Krieg auch in Augsburg Siedlungsplätze zugewiesen wurden. Die Feier fand vor der Gedenktafel statt, die seit 2018 an der Wand der Aussegnungshalle auch an die Diskriminierungen dieser Minderheit erinnert, die dem Völkermord vorausging. Wie die Tafel ist auch die offizielle Gedenkfeier ein Arbeitserfolg des 2016 gegründeten Verbandes.
Herzenberger, Blach, Blum, Franz, Gross steht in goldenen Buchstaben auf den klassizistischen schwarzen Marmorgrabsteinen. Wir sind tot, aber wir haben überlebt – so ließe sich die Botschaft dieser monumentalen Ruhestätten an die Gesellschaft lesen. 1997 ertrotzten sich ihre Hinterbliebenen – mit Rückendeckung zweier Angestellter der Friedhofsverwaltung – das Recht, die Großeltern und ihre gemeinsame Geschichte in dieser Form zu ehren. Sie sind Sinti-Familien, Überlebende des deutschen Völkermords, den die Juden Shoa, die Sinti und Roma „Porajmos“(Verschlingen) nennen. Während nach den 1980er Jahren die Aufarbeitung der Verbrechen an den Juden Europas und ihrer Entschädigungen ins Bewusstsein der Deutschen rückte, blieben die Geschichten der Sinti und Roma Jahrzehnte lang unerzählt. „Unser Kampf um Wiedergutmachung hat lange gedauert. Einmal gab es 3000 D-Mark. Dafür, dass meine Eltern in der Hitler-Zeit die Schule nicht besuchen durften“, erzählt Marcella Reinhardt. „In den 1990ern kam eine weitere Zahlung. Die haben wir 1997 zusammen hier in die Gräber unserer Familien investiert.“Insgesamt liegen auf dem Nordfriedhof 45 Sinti und Roma, die im Deutschen Reich nach den Rassegesetzen für staatenlos erklärt und deportiert wurden, die KZs aber überlebten.
Nico Franz, einer der bundesweit Musiker der Augsburger Sinti-Community und ehemals Stipendiat der Yehudi Menuhin-Stiftung, begleitete die Gedenkfeier mit seiner Geige und drei Mitstreitern an Bass, Gitarre und Keyboard. Eine der letzten noch lebenden Zeitzeuginnen, Marianne Franz, nahm teil, außerdem Stadträte von CSU, SPD und Grünen. Zwei Kränze liegen vor der Tafel, die die Stadt 2018 hier zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma anbringen ließ. Oberbürgermeisterin Eva Weber bekennt: „Die Nationalsozialisten haben 500.000 dieser Minderheit ermordet. Es ist ein großes Versäumnis unserer Gesellschaft, dass wir diesen Opfern bis heute keine Stimme gegeben haben.“
Wie Agnes Herzenberger, die Großmutter von Marcella Reinhard und ihren neun Geschwistern. Geboren 1896. Sie lebte mit ihrem Mann Josef Herzenberger in Stettin, wurde wegen „Fremdrasse“inhaftiert, ihr Mann mit ihren vier Kindern nach Auschwitz deportiert. Doch drei der Kinder konnten fliehen, darunter Marcella Reinhards Vater. Sie wurden allerdings nochmals inhaftiert und die beiden Schwestern ohne Betäubung sterilisiert. Von ihnen lebt noch eine in Augsburg. Letzter bekannter Aufenthaltsort von Josef Herzenberger ist Auschwitz, „Lagerabschnitt B2E, Zigeunerlager“. Vermutlich wurde er dort ermordet. „Der Leichnam unseres Großvaters wurbekannten de nie gefunden. Seinen Namen wollten wir trotzdem auf dem Grabstein haben, auch wenn sein Grab leer ist“, erklärt Enkel Robertino Herzenberger. Agnes hingegen überlebte.
Robertino und Marcellino Herzenberger schätzen, dass heute etwa 700 bis 1000 Sinti und Roma in Augsburg leben, allein in Oberhausen seien es gut 60 Familien. Beide wuchsen mit den Erzählungen und Traumata der Eltern und Großeltern auf. Sie sollten auch Jahrzehnte nach dem Krieg Außenseiter bleiben. Nur die Polizei hatte immer ein Auge auf die Siedlung, Razzien waren an der Tagesordnung. Für die Kinder war wie selbstverständlich die Sonderschule vorgesehen, erzählt Robertino Herzenberger. Eine Tante habe nach langem Hin und Her erst vor zwei Jahren einen deutschen Pass bekommen. Sowohl unter den Nazis als auch in der Bundesrepublik war sie bis dahin staatenlos. Ob er heute noch antiziganistische Sprüche hört? „Ja, manchmal sagen sie, ich soll dahin gehen, wo ich hergekommen bin. Wo soll das sein?“, sagt er in breitestem Augsburger Schwäbisch. Seine Tochter macht eine Ausbildung im Immobiliensektor. Darauf ist er stolz. Der Arbeitgeber wird sie übernehmen, sagt er.
Auf der Agenda des Verbandes stehen laut der Vorsitzenden Marcella Reinhardt jetzt neben der geschichtlichen Aufklärung eine Zusammenarbeit mit Schulen und Lehrern, Sprachangebote in Romanes für Kinder und die Betreuung von Roma, die als EU-Ausländer in Augsburg arbeiten. „Uns geht die Arbeit nicht aus“, ist sie sich sicher.