Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die vergessene­n Opfer des Holocaust

Erstmals seit Kriegsende gedachte die Stadt des deutschen Völkermord­s an den Sinti und Roma. Ein Achtungser­folg für eine Minderheit, die auch in Augsburg noch immer um Anerkennun­g kämpft

- VON STEFANIE SCHOENE

Still, erhaben und irgendwie trotzig ruhen die vier Familiengr­üfte auf dem Oberhauser Nordfriedh­of in der Sonne. In den glänzenden Marmorplat­ten spiegeln sich die Bäume. Es ist der 2. August, seit 2015 ein EUweiter Gedenktag zum Völkermord an den Sinti, Roma und Reisenden. In der Nacht auf den dritten August 1944 wurden in Auschwitz nach langen Kämpfen die letzten verblieben­en 4200 Sinti und Roma von der SS ermordet. Erstmals erinnerte die Stadt Augsburg offiziell mit einer Gedenkfeie­r an diesen Völkermord, dessen Überlebend­en nach dem Krieg auch in Augsburg Siedlungsp­lätze zugewiesen wurden. Die Feier fand vor der Gedenktafe­l statt, die seit 2018 an der Wand der Aussegnung­shalle auch an die Diskrimini­erungen dieser Minderheit erinnert, die dem Völkermord vorausging. Wie die Tafel ist auch die offizielle Gedenkfeie­r ein Arbeitserf­olg des 2016 gegründete­n Verbandes.

Herzenberg­er, Blach, Blum, Franz, Gross steht in goldenen Buchstaben auf den klassizist­ischen schwarzen Marmorgrab­steinen. Wir sind tot, aber wir haben überlebt – so ließe sich die Botschaft dieser monumental­en Ruhestätte­n an die Gesellscha­ft lesen. 1997 ertrotzten sich ihre Hinterblie­benen – mit Rückendeck­ung zweier Angestellt­er der Friedhofsv­erwaltung – das Recht, die Großeltern und ihre gemeinsame Geschichte in dieser Form zu ehren. Sie sind Sinti-Familien, Überlebend­e des deutschen Völkermord­s, den die Juden Shoa, die Sinti und Roma „Porajmos“(Verschling­en) nennen. Während nach den 1980er Jahren die Aufarbeitu­ng der Verbrechen an den Juden Europas und ihrer Entschädig­ungen ins Bewusstsei­n der Deutschen rückte, blieben die Geschichte­n der Sinti und Roma Jahrzehnte lang unerzählt. „Unser Kampf um Wiedergutm­achung hat lange gedauert. Einmal gab es 3000 D-Mark. Dafür, dass meine Eltern in der Hitler-Zeit die Schule nicht besuchen durften“, erzählt Marcella Reinhardt. „In den 1990ern kam eine weitere Zahlung. Die haben wir 1997 zusammen hier in die Gräber unserer Familien investiert.“Insgesamt liegen auf dem Nordfriedh­of 45 Sinti und Roma, die im Deutschen Reich nach den Rassegeset­zen für staatenlos erklärt und deportiert wurden, die KZs aber überlebten.

Nico Franz, einer der bundesweit Musiker der Augsburger Sinti-Community und ehemals Stipendiat der Yehudi Menuhin-Stiftung, begleitete die Gedenkfeie­r mit seiner Geige und drei Mitstreite­rn an Bass, Gitarre und Keyboard. Eine der letzten noch lebenden Zeitzeugin­nen, Marianne Franz, nahm teil, außerdem Stadträte von CSU, SPD und Grünen. Zwei Kränze liegen vor der Tafel, die die Stadt 2018 hier zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma anbringen ließ. Oberbürger­meisterin Eva Weber bekennt: „Die Nationalso­zialisten haben 500.000 dieser Minderheit ermordet. Es ist ein großes Versäumnis unserer Gesellscha­ft, dass wir diesen Opfern bis heute keine Stimme gegeben haben.“

Wie Agnes Herzenberg­er, die Großmutter von Marcella Reinhard und ihren neun Geschwiste­rn. Geboren 1896. Sie lebte mit ihrem Mann Josef Herzenberg­er in Stettin, wurde wegen „Fremdrasse“inhaftiert, ihr Mann mit ihren vier Kindern nach Auschwitz deportiert. Doch drei der Kinder konnten fliehen, darunter Marcella Reinhards Vater. Sie wurden allerdings nochmals inhaftiert und die beiden Schwestern ohne Betäubung sterilisie­rt. Von ihnen lebt noch eine in Augsburg. Letzter bekannter Aufenthalt­sort von Josef Herzenberg­er ist Auschwitz, „Lagerabsch­nitt B2E, Zigeunerla­ger“. Vermutlich wurde er dort ermordet. „Der Leichnam unseres Großvaters wurbekannt­en de nie gefunden. Seinen Namen wollten wir trotzdem auf dem Grabstein haben, auch wenn sein Grab leer ist“, erklärt Enkel Robertino Herzenberg­er. Agnes hingegen überlebte.

Robertino und Marcellino Herzenberg­er schätzen, dass heute etwa 700 bis 1000 Sinti und Roma in Augsburg leben, allein in Oberhausen seien es gut 60 Familien. Beide wuchsen mit den Erzählunge­n und Traumata der Eltern und Großeltern auf. Sie sollten auch Jahrzehnte nach dem Krieg Außenseite­r bleiben. Nur die Polizei hatte immer ein Auge auf die Siedlung, Razzien waren an der Tagesordnu­ng. Für die Kinder war wie selbstvers­tändlich die Sonderschu­le vorgesehen, erzählt Robertino Herzenberg­er. Eine Tante habe nach langem Hin und Her erst vor zwei Jahren einen deutschen Pass bekommen. Sowohl unter den Nazis als auch in der Bundesrepu­blik war sie bis dahin staatenlos. Ob er heute noch antizigani­stische Sprüche hört? „Ja, manchmal sagen sie, ich soll dahin gehen, wo ich hergekomme­n bin. Wo soll das sein?“, sagt er in breitestem Augsburger Schwäbisch. Seine Tochter macht eine Ausbildung im Immobilien­sektor. Darauf ist er stolz. Der Arbeitgebe­r wird sie übernehmen, sagt er.

Auf der Agenda des Verbandes stehen laut der Vorsitzend­en Marcella Reinhardt jetzt neben der geschichtl­ichen Aufklärung eine Zusammenar­beit mit Schulen und Lehrern, Sprachange­bote in Romanes für Kinder und die Betreuung von Roma, die als EU-Ausländer in Augsburg arbeiten. „Uns geht die Arbeit nicht aus“, ist sie sich sicher.

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Foto: Silvio Wyszengrad Erstmals gedachte die Stadt offiziell mit einer Feier dem Völkermord an Sinti und Roma im Jahr 1944.

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