Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wenn die Trojaner ums Pferd stolpern
Jazzpianist Tobias Reinsch gönnt sich auf „Elf“manchen Regelbruch. Unterschiedliche musikalische Einflüsse bringt er mit Herz, Hirn und Händen auf den Flügel
Der Jazzpianist Horace Silver hatte großen Spaß daran, klassische Bluesschemata aufzubrechen und überhaupt alles nicht so wahnsinnig ernst zu nehmen, denn „Jazz…has a sense of humor“, so der Titel eines seiner letzten Alben aus dem Jahr 1999. Dass er ein großes Vorbild des Augsburger Pianisten Tobias Reinsch ist, hört man dessen abwechslungsreichen Solo-Debüt „Elf“(Lädy Bäm Records, 2021) zweifelsohne an.
Reinsch hat einen subtilen Sinn für Humor und eine Vorliebe für feine kompositorische Anarchie. In dem Stück „Elf Meter vor Troja“bricht er, wie Silver es selbst gerne tat, das klassische Bluesschema auf, spielt einen schwankenden Elfertakt über einen 12-Bar-Blues und betont lächelnd auf der falschen vierten Stufe. Man glaubt, die orientierungslosen Krieger der altertümlichen Stadt fassungslos vor dem riesigen Holzpferd herumstolpern zu sehen, und das abrupte Ende lässt viel Raum, den Ausgang der Geschichte selbst weiterzuspinnen. Das klingt nachvollziehbar, fast leichtfüßig, „war aber eines der schwersten Stücke zu spielen und machte beim Arrangement am meisten Arbeit“, wie der Pianist am Telefon erzählt.
Auch im ganz frischen „Don’t“hört man gepflegte Regelbrüche, Reinsch arbeitet mit Oktavparallelen, die in der Harmonielehre als verboten gelten, weil sie, grob gesagt, aus einem vierstimmigen Satz kurzerhand einen dreistimmigen machen. Doch im Jazz geht so etwas natürlich trotzdem, und wenn man sich nicht dem Komponistenkodex verpflichtet fühlt, geht es gleich zweimal. Und die Hörenden scheren sich sicherlich auch nicht um die Prinzipien der Musiktheorie, wenn einem die Stücke viel Raum geben, seine Gedanken schweifen zu lassen und die Konzentration ganz auf ein Instrument zu legen.
In Reinschs Jazzcombo Trio Zahg zählt die Dynamik zwischen den drei Musikern, auf „Elf“hört man einen vielseitigen Pianisten, der sich mit Haut und Haar dem Klavier hingibt. Tobias Reinsch hat viel Zeit und Energie in das Album investiert, die Skizzen, auf denen die elf Stücke des Albums basieren, sind bis zu sieben Jahre alt. Die Pandemie schenkte ihm viel Zeit, „um alte Sachen rauszuholen, neue zu schreiben und auch wenn es dein Zeug ist, musst du es natürlich auch üben“. Zum Öffnen des Skizzenbuchs motivierte ihn seine Ehefrau und übernahm als Nicht-Musikerin auch gleich die Funktion des kritischen Ohrs, das den Entstehungsprozess begleitete. Oftmals bewahren gerade die Beobachtungen eines musikalischen Laien vor Betriebsblindheit, und wenn diese Person eine enge Vertraute ist, umso besser.
Reinsch blickt auf einen breiten stilistischen Horizont, dem auf dem Album Rechnung getragen wurde und doch wirken die Kompositionen homogen, da sich einmal seine prinzipielle Musikalität und im Speziellen sein runder, weicher Ton wie ein roter Faden durch das Album ziehen. Und weil alle Einflüsse, Klassik, Pop und sakrale Musik durch das Herz, Hirn und die Hände eines leidenschaftlichen Jazzers auf den Flügel übertragen wurden. Da wären die simplen, aber verqueren Akkorde bei K.T. und das Popsongpotential von „Blue Blue Rider“, zu dem man sich gut die weiche, helle Stimme von Charlotte Gainsbourg vorstellen könnte. Oder da wäre „Ein Zug aus Traum“mit seinen verspielten, spirituellen Barockfiguren und dem kleinen, melancholischen Thema aus vier Tönen, das in einen sehr schönen B-Teil aufgeht wie die Morgensonne.
Aufgenommen wurde das Album im August 2020, doch Tobias Reinsch ist im Nebenberuf auch Perfektionist, daher wurde mit Hilfe des Sendetonmeisters von Jan Böhmermann, Tom Vermaaten, der Löwenanteil der Stücke diesen Februar unter größter Anstrengung noch einmal aufgenommen. Das Ergebnis ist ein emotionales, humorvolles und sehnsüchtig klingendes Klavieralbum mit elf völlig unterschiedlichen Stücken, die aber eindeutig aus dem Bauch des ein und selben Komponisten heraus entstanden sind.
Der Albumtitel bezieht sich auf die elf Stücke genauso wie auf die tolkiensche Elfe, ein Fabelwesen mit den gleichen Unzulänglichkeiten, wie sie bei den Menschen vorkommen, nur eben psychisch und physisch stark und immun gegen Krankheiten. Eine Elfe wäre tröstende Figur für den Sommer 2021, „Elf“ein Album, das man auch noch Jahre später immer wieder gerne hören wird.