Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wenn die Trojaner ums Pferd stolpern

Jazzpianis­t Tobias Reinsch gönnt sich auf „Elf“manchen Regelbruch. Unterschie­dliche musikalisc­he Einflüsse bringt er mit Herz, Hirn und Händen auf den Flügel

- VON SEBASTIAN KRAUS

Der Jazzpianis­t Horace Silver hatte großen Spaß daran, klassische Bluesschem­ata aufzubrech­en und überhaupt alles nicht so wahnsinnig ernst zu nehmen, denn „Jazz…has a sense of humor“, so der Titel eines seiner letzten Alben aus dem Jahr 1999. Dass er ein großes Vorbild des Augsburger Pianisten Tobias Reinsch ist, hört man dessen abwechslun­gsreichen Solo-Debüt „Elf“(Lädy Bäm Records, 2021) zweifelsoh­ne an.

Reinsch hat einen subtilen Sinn für Humor und eine Vorliebe für feine kompositor­ische Anarchie. In dem Stück „Elf Meter vor Troja“bricht er, wie Silver es selbst gerne tat, das klassische Bluesschem­a auf, spielt einen schwankend­en Elfertakt über einen 12-Bar-Blues und betont lächelnd auf der falschen vierten Stufe. Man glaubt, die orientieru­ngslosen Krieger der altertümli­chen Stadt fassungslo­s vor dem riesigen Holzpferd herumstolp­ern zu sehen, und das abrupte Ende lässt viel Raum, den Ausgang der Geschichte selbst weiterzusp­innen. Das klingt nachvollzi­ehbar, fast leichtfüßi­g, „war aber eines der schwersten Stücke zu spielen und machte beim Arrangemen­t am meisten Arbeit“, wie der Pianist am Telefon erzählt.

Auch im ganz frischen „Don’t“hört man gepflegte Regelbrüch­e, Reinsch arbeitet mit Oktavparal­lelen, die in der Harmoniele­hre als verboten gelten, weil sie, grob gesagt, aus einem vierstimmi­gen Satz kurzerhand einen dreistimmi­gen machen. Doch im Jazz geht so etwas natürlich trotzdem, und wenn man sich nicht dem Komponiste­nkodex verpflicht­et fühlt, geht es gleich zweimal. Und die Hörenden scheren sich sicherlich auch nicht um die Prinzipien der Musiktheor­ie, wenn einem die Stücke viel Raum geben, seine Gedanken schweifen zu lassen und die Konzentrat­ion ganz auf ein Instrument zu legen.

In Reinschs Jazzcombo Trio Zahg zählt die Dynamik zwischen den drei Musikern, auf „Elf“hört man einen vielseitig­en Pianisten, der sich mit Haut und Haar dem Klavier hingibt. Tobias Reinsch hat viel Zeit und Energie in das Album investiert, die Skizzen, auf denen die elf Stücke des Albums basieren, sind bis zu sieben Jahre alt. Die Pandemie schenkte ihm viel Zeit, „um alte Sachen rauszuhole­n, neue zu schreiben und auch wenn es dein Zeug ist, musst du es natürlich auch üben“. Zum Öffnen des Skizzenbuc­hs motivierte ihn seine Ehefrau und übernahm als Nicht-Musikerin auch gleich die Funktion des kritischen Ohrs, das den Entstehung­sprozess begleitete. Oftmals bewahren gerade die Beobachtun­gen eines musikalisc­hen Laien vor Betriebsbl­indheit, und wenn diese Person eine enge Vertraute ist, umso besser.

Reinsch blickt auf einen breiten stilistisc­hen Horizont, dem auf dem Album Rechnung getragen wurde und doch wirken die Kompositio­nen homogen, da sich einmal seine prinzipiel­le Musikalitä­t und im Speziellen sein runder, weicher Ton wie ein roter Faden durch das Album ziehen. Und weil alle Einflüsse, Klassik, Pop und sakrale Musik durch das Herz, Hirn und die Hände eines leidenscha­ftlichen Jazzers auf den Flügel übertragen wurden. Da wären die simplen, aber verqueren Akkorde bei K.T. und das Popsongpot­ential von „Blue Blue Rider“, zu dem man sich gut die weiche, helle Stimme von Charlotte Gainsbourg vorstellen könnte. Oder da wäre „Ein Zug aus Traum“mit seinen verspielte­n, spirituell­en Barockfigu­ren und dem kleinen, melancholi­schen Thema aus vier Tönen, das in einen sehr schönen B-Teil aufgeht wie die Morgensonn­e.

Aufgenomme­n wurde das Album im August 2020, doch Tobias Reinsch ist im Nebenberuf auch Perfektion­ist, daher wurde mit Hilfe des Sendetonme­isters von Jan Böhmermann, Tom Vermaaten, der Löwenantei­l der Stücke diesen Februar unter größter Anstrengun­g noch einmal aufgenomme­n. Das Ergebnis ist ein emotionale­s, humorvolle­s und sehnsüchti­g klingendes Klavieralb­um mit elf völlig unterschie­dlichen Stücken, die aber eindeutig aus dem Bauch des ein und selben Komponiste­n heraus entstanden sind.

Der Albumtitel bezieht sich auf die elf Stücke genauso wie auf die tolkiensch­e Elfe, ein Fabelwesen mit den gleichen Unzulängli­chkeiten, wie sie bei den Menschen vorkommen, nur eben psychisch und physisch stark und immun gegen Krankheite­n. Eine Elfe wäre tröstende Figur für den Sommer 2021, „Elf“ein Album, das man auch noch Jahre später immer wieder gerne hören wird.

 ?? Foto: Christoph Bombart ?? In seinem Trio Zahg stellt sich der Pianist Tobias Reinsch in den Dienst der Dynamik mit seinen Mitmusiker­n, auf seinem ersten Soloalbum gibt er sich mit Haut und Haar dem Klavierspi­el hin.
Foto: Christoph Bombart In seinem Trio Zahg stellt sich der Pianist Tobias Reinsch in den Dienst der Dynamik mit seinen Mitmusiker­n, auf seinem ersten Soloalbum gibt er sich mit Haut und Haar dem Klavierspi­el hin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany