Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Angst vor neuem Flüchtlingsstrom
In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen. Am Kabuler Flughafen suchen verzweifelte Menschen Zugang zu Flugzeugen. Politiker fürchten ein „zweites 2015“
Berlin „Die Bilder der Verzweiflung am Flughafen in Kabul sind beschämend für den politischen Westen.“Mit diesen Worten gab Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wohl die Meinung vieler Menschen wieder. Die Bewältigung der Lage vor Ort ist eine Sache. Die andere ist der Umgang mit den Menschen, die vor den Taliban aus Afghanistan flüchten. Zwischen 300 000 und fünf Millionen Menschen könnten es sein, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nach Informationen unserer Redaktion bei einer Sitzung der im Bundestag vertretenen Fraktionsspitzen abstrakt schätzte. Die große Spanne zeigt, wie unklar die Lage ist. Klar ist hingegen: Das Ziel der meisten Parteien ist es, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten.
Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zeigen die dramatische Lage. Seit Jahresbeginn wurden (Stand Montag) rund 551 000 Afghanen vertrieben, die meisten davon Frauen und Kinder. Sie kommen zu den 2,9 Millionen Flüchtlingen des letzten Jahres hinzu. Viele davon sind allerdings Binnenflüchtlinge. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) von Anfang August verließen zu diesem Zeitpunkt jede Woche rund 30000 Menschen das Land. „Deutschland und die EU müssen den Tatsachen ins Auge blicken: Es steht angesichts des Unrechtsregimes der Taliban eine neue Fluchtbewegung bevor“, sagt DiakoniePräsident Ulrich Lilie. Anrainerstaaten wie die Türkei, Pakistan und der Iran bräuchten Unterstützung, damit sie diese Menschen aufnehmen und mit dem Nötigsten versorgen könnten.
Pakistan hat laut UNHCR bislang rund 1,4 Millionen, der Iran etwa 780000 afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Diesen Ländern kommt aus Sicht der Bundesregierung eine Schlüsselrolle zu. Sie sollen die Flüchtlinge aufnehmen, damit die sich nicht auf den Weg nach
Europa machen. Die Fehler der Vergangenheit dürften hier nicht wiederholt werden, erklärte Kanzlerin Angela Merkel. 2015 sei nicht genug Geld an das UNHCR gezahlt worden, in der Folge hätten sich Menschen aus Jordanien, Libanon und Syrien direkt nach Europa aufgemacht. „Es geht jetzt darum, dass wir heute schneller sind und schnell den Nachbarstaaten Hilfe anbieten“, sagte sie. Erst in einem zweiten Schritt soll es um Flüchtlingskontingente gehen, die „kontrolliert“nach Europa kommen.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hält es nun für dringend notwendig, „die Nachbarstaaten von Afghanistan zu unterstützen und ihnen schnellstmögliche Hilfe zukommen zu lassen, damit sie afghanische Flüchtlinge aufnehmen und ausreichend versorgen können“. Hermann sah dabei „vorrangig die USA in der Verantwortung“. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae beurteilte die Lage ähnlich. „Um langen Flüchtlingstrecks nach Europa vorzubeugen, ist es dringend erforderlich, mithilfe des UNHCR bereits in den Nachbarländern Afghanistans Strukturen zu schaffen, in denen Menschen auch für längere Zeit leben können“, sagte er und forderte einen EU-Sondergipfel.
Der Migrationsforscher Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik warnt davor, mit der Warnung vor 2015 Ängste zu schüren. Er gehe von wachsenden Flüchtlingszahlen aus, sagte er. Man werde aber „bei weitem nicht die Zahlen von 2015 und 2016 erreichen“. Damals kamen mehr als 1,1 Millionen Asylsuchende nach Deutschland. Heute hat sich Europa weitgehend abgeriegelt. Griechenland will afghanische Migranten stoppen. Ungarn hat an der Grenze zu Serbien einen Metallzaun errichtet. In Deutschland kamen im Juli rund 12000 Asylsuchende an. Die größte Gruppe unter denen, die erstmals Asyl beantragten, waren Syrer (4759 Menschen), gefolgt von Afghanen (2353).