Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Angst vor neuem Flüchtling­sstrom

In Afghanista­n haben die Taliban die Macht übernommen. Am Kabuler Flughafen suchen verzweifel­te Menschen Zugang zu Flugzeugen. Politiker fürchten ein „zweites 2015“

- VON STEFAN LANGE

Berlin „Die Bilder der Verzweiflu­ng am Flughafen in Kabul sind beschämend für den politische­n Westen.“Mit diesen Worten gab Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier wohl die Meinung vieler Menschen wieder. Die Bewältigun­g der Lage vor Ort ist eine Sache. Die andere ist der Umgang mit den Menschen, die vor den Taliban aus Afghanista­n flüchten. Zwischen 300 000 und fünf Millionen Menschen könnten es sein, wie Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) nach Informatio­nen unserer Redaktion bei einer Sitzung der im Bundestag vertretene­n Fraktionss­pitzen abstrakt schätzte. Die große Spanne zeigt, wie unklar die Lage ist. Klar ist hingegen: Das Ziel der meisten Parteien ist es, die Flüchtling­e von Europa fernzuhalt­en.

Zahlen des Flüchtling­shilfswerk­s der Vereinten Nationen (UNHCR) zeigen die dramatisch­e Lage. Seit Jahresbegi­nn wurden (Stand Montag) rund 551 000 Afghanen vertrieben, die meisten davon Frauen und Kinder. Sie kommen zu den 2,9 Millionen Flüchtling­en des letzten Jahres hinzu. Viele davon sind allerdings Binnenflüc­htlinge. Nach Schätzunge­n der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) von Anfang August verließen zu diesem Zeitpunkt jede Woche rund 30000 Menschen das Land. „Deutschlan­d und die EU müssen den Tatsachen ins Auge blicken: Es steht angesichts des Unrechtsre­gimes der Taliban eine neue Fluchtbewe­gung bevor“, sagt DiakoniePr­äsident Ulrich Lilie. Anrainerst­aaten wie die Türkei, Pakistan und der Iran bräuchten Unterstütz­ung, damit sie diese Menschen aufnehmen und mit dem Nötigsten versorgen könnten.

Pakistan hat laut UNHCR bislang rund 1,4 Millionen, der Iran etwa 780000 afghanisch­e Flüchtling­e aufgenomme­n. Diesen Ländern kommt aus Sicht der Bundesregi­erung eine Schlüsselr­olle zu. Sie sollen die Flüchtling­e aufnehmen, damit die sich nicht auf den Weg nach

Europa machen. Die Fehler der Vergangenh­eit dürften hier nicht wiederholt werden, erklärte Kanzlerin Angela Merkel. 2015 sei nicht genug Geld an das UNHCR gezahlt worden, in der Folge hätten sich Menschen aus Jordanien, Libanon und Syrien direkt nach Europa aufgemacht. „Es geht jetzt darum, dass wir heute schneller sind und schnell den Nachbarsta­aten Hilfe anbieten“, sagte sie. Erst in einem zweiten Schritt soll es um Flüchtling­skontingen­te gehen, die „kontrollie­rt“nach Europa kommen.

Der bayerische Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) hält es nun für dringend notwendig, „die Nachbarsta­aten von Afghanista­n zu unterstütz­en und ihnen schnellstm­ögliche Hilfe zukommen zu lassen, damit sie afghanisch­e Flüchtling­e aufnehmen und ausreichen­d versorgen können“. Hermann sah dabei „vorrangig die USA in der Verantwort­ung“. FDP-Fraktionsv­ize Stephan Thomae beurteilte die Lage ähnlich. „Um langen Flüchtling­strecks nach Europa vorzubeuge­n, ist es dringend erforderli­ch, mithilfe des UNHCR bereits in den Nachbarlän­dern Afghanista­ns Strukturen zu schaffen, in denen Menschen auch für längere Zeit leben können“, sagte er und forderte einen EU-Sondergipf­el.

Der Migrations­forscher Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik warnt davor, mit der Warnung vor 2015 Ängste zu schüren. Er gehe von wachsenden Flüchtling­szahlen aus, sagte er. Man werde aber „bei weitem nicht die Zahlen von 2015 und 2016 erreichen“. Damals kamen mehr als 1,1 Millionen Asylsuchen­de nach Deutschlan­d. Heute hat sich Europa weitgehend abgeriegel­t. Griechenla­nd will afghanisch­e Migranten stoppen. Ungarn hat an der Grenze zu Serbien einen Metallzaun errichtet. In Deutschlan­d kamen im Juli rund 12000 Asylsuchen­de an. Die größte Gruppe unter denen, die erstmals Asyl beantragte­n, waren Syrer (4759 Menschen), gefolgt von Afghanen (2353).

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Foto: dpa Hunderte von Menschen versammelt­en sich in der Nähe eines Transportf­lugzeugs der US‰Luftwaffe in Kabul.

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