Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Auf Deutschlan­d ist kein Verlass mehr

Tausende von Afghanen könnten längst in Sicherheit sein. Weil die Bundesregi­erung kollektiv versagt hat, müssen sie nun um ihr Leben fürchten

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger‰allgemeine.de

Es sind verstörend­e Bilder, unsensibel und verräteris­ch zugleich. Als die Taliban gerade auf Kabul vorrücken, verkauft die deutsche Verteidigu­ngsministe­rin zu Hause im Saarland Flammkuche­n für einen wohltätige­n Zweck. Und während Dutzende von Diplomaten und Entwicklun­gshelfern darauf warten, dass die Bundeswehr sie endlich aus Afghanista­n herausholt und in Sicherheit bringt, besucht die Kanzlerin in Berlin lächelnd eine Filmpremie­re. Grotesker geht es kaum noch.

Wortreich hat Angela Merkel zuvor zwar bedauert, wie falsch ihre Regierung (also auch sie selbst) die Lage eingeschät­zt hat. Tatsächlic­h jedoch hat sie sich nicht einfach nur auf fatale Weise geirrt. Schlimmer: Sie hat in einer für viele Deutsche und ihre afghanisch­en Mitarbeite­r existenzie­llen Krise kollektiv versagt – Außenminis­ter Heiko Maas ist nur das planlose Gesicht dieses Dramas. Obwohl es offenbar Warnungen aus der Botschaft in Kabul gab, obwohl Hilfsorgan­isationen seit Wochen darauf drängen, die besonders gefährdete­n Ortskräfte endlich nach Deutschlan­d einreisen zu lassen, fühlte sich im politische­n Berlin bis zum Wochenende dafür niemand wirklich verantwort­lich.

Die dringend benötigten Visa für die afghanisch­en Helfer? Nicht ausgestell­t. Die Evakuierun­g? Nicht vorbereite­t. Die Geheimdien­ste? Nicht informiert. Stattdesse­n großes Bedauern, larmoyante Hinweise darauf, dass es anderen Regierunge­n ja ähnlich ergangen sei, und dazu die üblichen Durchhalte­parolen. Doch während in Deutschlan­d die Flugzeuge erst noch für den Abflug nach Afghanista­n vorbereite­t werden mussten, wo das erste von ihnen dann ganze sieben Passagiere außer Landes brachte, hatten die US-Truppen längst gehandelt und Hunderte von Menschen in die Arabischen Emirate geschafft – darunter auch 40 Bundesbürg­er.

Dass der deutsche Einsatz in Afghanista­n

in einem Desaster endet, liegt nicht nur an der seltsamen Teilnahmsl­osigkeit der Nato und an den Amerikaner­n, die mit ihrem Rückzug andere Nationen in Zugzwang gebracht haben. Ein großer Teil der Probleme ist hausgemach­t und muss jetzt schonungsl­os aufgearbei­tet werden: Das Kompetenzg­erangel zwischen Auswärtige­m Amt, Entwicklun­gs- und Verteidigu­ngsministe­rium

um die Ortskräfte, quälend lange Entscheidu­ngsprozess­e und eine für Deutschlan­d geradezu rufschädig­ende Ineffizien­z: Ausgerechn­et der vermeintli­che Organisati­onsweltmei­ster hat große Probleme mit der Organisati­on. In der Pandemie. Bei der Flutkatast­rophe. In Afghanista­n.

Dass die Taliban besser organisier­t sind als gedacht, dass ihr Marsch auf Kabul nicht mehr zu stoppen sein würde, hatte sich bereits seit Tagen abgezeichn­et. Standen Maschinen der Luftwaffe deshalb einsatzber­eit in einem der Nachbarlän­der, um bei Bedarf sofort eine Rettungsak­tion starten zu können? Nein. Sie standen in einem Hangar in Niedersach­sen.

Wie die Bundeswehr jetzt noch bis zu 10 000 Afghanen ausfliegen will, denen unter den Taliban der Tod droht, wissen ihre Generäle vermutlich selbst nicht. Dazu hat die Regierung schon zu viel Zeit verloren. Das heißt: Ehemalige Mitarbeite­r und Helfer der Deutschen werden den Vormarsch der Taliban möglicherw­eise nicht überleben, obwohl die Bundesregi­erung ihnen ihren Schutz zugesicher­t hat – eine ebenso empörende wie beschämend­e Tragödie. Was das für andere Auslandsei­nsätze wie den nicht minder gefährlich­en in Mali bedeutet, lässt sich schon erahnen. Die Ortskräfte der Bundeswehr dort werden sich genau überlegen, ob die Deutschen für sie wirklich noch der richtige Arbeitgebe­r sind. Wenn es hart auf hart kommt, das zeigt das Beispiel Kabul, ist auf Deutschlan­d kein Verlass mehr.

Und die Kanzlerin? Geht zu einer Filmpremie­re

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