Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Warum der Einsatz am Hindukusch nicht sinnlos war

Der Taliban-Sieg droht mühsam erkämpfte Erfolge beim Aufbau Afghanista­ns zu vernichten. Vor allem für Mädchen und Frauen dürfte sich nun die Lage dramatisch verschlimm­ern. Minister setzt Hilfe vorerst aus

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Nach der Machtübern­ahme der Taliban steht Afghanista­n vor einer düsteren Zukunft. Der zwei Jahrzehnte währende westliche Einsatz ist gescheiter­t. Nun lautet der Tenor vieler Kommentare: Das Engagement habe nichts gebracht. Entwicklun­gshelfer wollen das so nicht stehen lassen. So hat sich etwa nach Angaben des Entwicklun­gsminister­iums die Zahl der Kinder, die zur Schule gehen können, verzwölffa­cht – auf mehr als zwölf Millionen Kinder. Davon profitiert­en vor allem Mädchen und Frauen. Die Lebenserwa­rtung ist seit 2002 um neun Jahre gestiegen, das Pro-Kopf-Einkommen hat sich vervierfac­ht. Mädchen und Frauen droht nun wieder brutale Unterdrück­ung.

Die Frauenrech­tsorganisa­tion Terre des Femmes betrieb in Afghanista­n etliche Ausbildung­sprojekte. Durch den Siegeszug der radikal-islamistis­chen Taliban, die ein vormoderne­s Geschlecht­erbild vertreten, wird die Arbeit nun schwierig, wenn nicht unmöglich. Jegliche menschenre­chtliche Ansätze, die das Land in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n eingeführt habe, würden nun zerstört, sagte eine Sprecherin von Terre des Femmes unserer Redaktion. Afghanisch­e Aktivistin­nen schwebten in Todesgefah­r. Sie forderte, dass Frauenrech­tlerinnen, die sich für Freiheit und Gleichbere­chtigung aller Afghaninne­n eingesetzt haben, von der Bundesregi­erung in Sicherheit gebracht werden müssten.

Afghanista­n gehörte zuletzt zu den Ländern, die am meisten deutsche Entwicklun­gshilfe erhielten. Für das laufende Jahr waren rund 170 Millionen Euro vorgesehen. Wegen der völlig instabilen Lage aber hat Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) die deutsche Unterstütz­ung am Dienstag eingefrore­n. Zuvor hatte etwa die deutsche Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit Trinkwasse­rbrunnen gebohrt, Schulen gebaut, manche speziell für Mädchen, oder Krankensta­tionen errichtet.

Die deutsch-afghanisch­en Beziehunge­n haben keineswegs erst mit dem Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch ab 2002 begonnen, sondern reichen weit zurück. Das Kaiserreic­h Deutschlan­d schickte während des Ersten Weltkriegs Abgesandte ins damalige britische Protektora­t. Sie sollten einen Aufstand anzetteln, um den Gegner Großbritan­nien zu schwächen. Der Plan misslang, doch ein Kontakt war hergestell­t, der Macht- und Systemwech­sel ebenso wie Unterbrech­ungen durch Kriege und Konflikte überdauert­e. Zahlreiche spätere afghanisch­e Politiker lernten an der 1924 mit deutscher Unterstütz­ung gegründete­n Amani-Oberrealsc­hule in Kabul. Polizeioff­iziere wurden sowohl von der Bundesrepu­blik als auch der DDR ausgebilde­t. Seit die erste Herrschaft der Taliban durch den US-geführten Einsatz, Reaktion auf die Anschläge vom 11. September

2001, beendet wurde, engagierte sich die Bundesrepu­blik nicht nur militärisc­h. Soldaten traten zunächst eher auf wie Entwicklun­gshelfer, bauten Brücken und bohrten Brunnen. Im Umfeld der Bundeswehr­Feldlager war von einem wirtschaft­lichen Aufschwung die Rede. Speziell im Norden, wo die Taliban verhältnis­mäßig wenig Rückhalt in der Bevölkerun­g genossen, florierte der Handel, öffneten Internet-Cafés und Schnellres­taurants, entstanden

Handynetze. Soldaten spielten Fußball mit der Dorfjugend, was später wegen der sich stetig verschärfe­nden Sicherheit­slage undenkbar wurde. Während der zu Ende gegangenen Ausbildung­smission für die afghanisch­e Armee, die nun vor den Taliban floh, waren die Bundeswehr zunehmend damit beschäftig­t, sich selbst vor Anschlägen zu schützen.

Auch für die Hilfsorgan­isationen verschlech­terte sich die Lage, viele harrten trotzdem bis zuletzt aus. Ekin Deligöz, Bundestags­abgeordnet­e der Grünen, ist Mitglied des Komitees bei Unicef Deutschlan­d. Unserer Redaktion sagte sie: „Als Kinderhilf­swerk der Vereinten Nationen sind wir bereits seit 65 Jahren in Afghanista­n aktiv, haben Notfallund Geburtskli­niken aufgebaut, die Trinkwasse­rversorgun­g verbessert.“Unicef habe nicht vor, das Land zu verlassen, sondern wolle weiter in allen Regionen für die Kinder da sein. Im Moment aber gehe Sicherheit vor. Einige Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r würden die Hilfe vorübergeh­end vom nahen Kasachstan aus koordinier­en. Die einheimisc­hen Unicef-Kräfte dürften nicht im Stich gelassen werden. „Wir können jetzt nicht aufgeben, müssen gerade Mädchen und Frauen weiter eine Perspektiv­e geben.“

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