Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Verzweifel­t und planlos

Die Nato und die EU wurden von den Ereignisse­n in Kabul völlig überrollt. Auf viele Fragen haben sie keine Antworten. Jetzt wollen die Mitgliedst­aaten die Aufnahme von Flüchtling­en in den afghanisch­en Nachbarsta­aten sicherstel­len

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Eigentlich hatte Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g an diesem Dienstag eine seiner stets nüchternen Stellungna­hmen angekündig­t. Afghanista­n sei ein „beispiello­ser Kollaps der militärisc­hen und politische­n Strukturen“führte der Norweger aus. Er dankte den amerikanis­chen und britischen Einheiten, die gerade die Evakuierun­g „organisier­en und absichern“. Von der Bundeswehr sprach er nicht. Aber dann brachte den trotz der schrecklic­hen Bilder aus Kabul steril wirkenden Chef der Militär-Allianz die Frage einer italienisc­hen Korrespond­entin aus der Fassung.

Unter Tränen flehte die Kollegin den Nato-Generalsek­retär an, die Frauen und Mädchen zu beschützen, die in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n endlich leben konnten. Sie bat Stoltenber­g, keine Gespräche mit den Taliban ohne Auflagen und Bedingunge­n zum Schutz der Frauen zu akzeptiere­n. Der Nato-Generalsek­retär rang erkennbar um Worte, verwies darauf, dass das Bündnis auch weiter für die Menschenre­chte kämpfen werde. Nur wie und womit? Darauf hatte Stoltenber­g keine Antwort.

Die Nato ist ebenso geschockt wie die EU. „Wir hatten befürchtet, dass die Uhrzeiger innerhalb von zwanzig Wochen um zwanzig Jahre zurückgest­ellt werden, doch unglücklic­herweise reichten stattdesse­n weniger als zwanzig Tage“, räumte der italienisc­he General Claudio Graziano, der Vorsitzend­e des EU-Militäraus­schusses, ein. Noch am Dienstag der Vorwoche stritten die Mitgliedst­aaten von EU und Nato miteinande­r, ob die Abschiebun­gen nach Afghanista­n fortgesetz­t werden könnten.

Längst geht es nur noch darum, die Evakuierun­g der Europäer und der einheimisc­hen Helfer zu organisier­en. Die Außenminis­ter der Gemeinscha­ft, die ebenfalls gestern per Video tagten, versprache­n sich gegenseiti­g, dass „jeder jeden Europäer“mitnimmt, egal, ob es sich nun um deutsche, amerikanis­che, französisc­he oder (ab dem heutigen Mittwoch) belgische Maschinen handelt. Ob das reicht, das wollte Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) am Dienstag noch nicht abschätzen. „Wir bemühen uns. Die Umstände am Flughafen Kabul sind mehr als schwierig“, sagte er und verteidigt­e zugleich sein Vorgehen. Berichte über einen regelrecht­en Hilferuf der deutschen Botschaft in Afghanista­ns Hauptstadt schon am Freitag wies er zurück. „Alle Mitgliedst­aaten (der Nato, d. Red.) haben gleich gehandelt und seit Samstag in Krisenstäb­en die Evakuierun­g vorbereite­t“, sagte Maas. „Ich würde meine Entscheidu­ngen so wieder treffen“, betonte der Minister, als er nach möglichen persönlich­en Konsequenz­en gefragt wurde.

Die EU-Staaten richteten ihren Blick gestern bereits nach vorne und wollen mit den Nachbarlän­dern Afghanista­ns die „humanitäre Zusammenar­beit“intensivie­ren, um Asylsuchen­de, die dort ankommen, auch möglichst fern von Europa zu betreuen. „Wir sind bereit, zu helfen“, sagte der Bundesauße­nminister. Andere wohl auch. Eine Fluchtwell­e in Richtung Europäisch­er Union soll vermieden werden.

Noch überlagern die schwer verdaulich­en Bilder aus Kabul den nächsten Schritt, nämlich die Auseinande­rsetzung mit der Frage, warum sowohl die Allianz wie auch die EU-Gemeinscha­ft derart unvorberei­tet auf die schnelle Machtübern­ahme der Taliban waren.

Im militärisc­hen Hauptquart­ier der Nato im belgischen Mons sagen hochrangig­e Militärs, der Zusammenbr­uch der afghanisch­en Streitkräf­te, die man fast 20 Jahre lang trainiert habe, war nicht vorherzuse­hen. Die Schuld, so hieß es gestern gegenüber unserer Redaktion, „liegt bei der Staatsführ­ung in Kabul, die ihren eigenen Sicherheit­sapparat bloßgestel­lt hat und lieber selbst geflohen“ist.

Ob das die einzige und wichtigste Erklärung ist? Für Jens Stoltenber­g, den Chef des größten Militärbün­dnisses der Welt, steht jedenfalls fest: „Es müssen Lehren gezogen werden.“Welche das sein könnten? An diesem Dienstag hatte er auch darauf keine Antwort.

Statt 20 Wochen dauerte es nur 20 Tage

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Foto: dpa In Köln protestier­ten diese Afghanen gegen die Machtübern­ahme durch die Taliban in ihrem Heimatland.
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Foto: dpa Generalsek­retär Jens Stoltenber­g versi‰ cherte, dass die Nato weiter um die Men‰ schenrecht­e kämpfen werde.

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