Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schickt Lukaschenk­o Menschen als Waffen?

An der Grenze werden Flüchtling­e instrument­alisiert. Lettland verhängt Notstand, Litauen schickt Soldaten. Spannung vor EU-Gipfel

- VON ULRICH KRÖKEL

Warschau Menschen als Waffen. Schleuser im Staatsauft­rag. Hybride Kriegsführ­ung. Die Worte, die derzeit in Litauen, Lettland und Polen fallen, könnten klarer kaum sein. „Wir verdammen die Instrument­alisierung von Migranten durch das Regime in Belarus“, erklärten der polnische Premier Mateusz Morawiecki und seine litauische Amtskolleg­in Ingrida Simonyte in aller Deutlichke­it und verbanden dies mit einem Appell. „Wir fordern die EU auf, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die irreguläre Migration zu stoppen.“

Allerdings will man im Osten der EU nicht warten, bis Stoppsigna­le aus Brüssel kommen. Die lettische Regierung verhängte schon vergangene Woche den Ausnahmezu­stand über die Grenzregio­n zu Belarus. Ziel sei es, den „aus Minsk gesteuerte­n Zustrom“von Menschen aus Krisengebi­eten wie dem Irak, Syrien und Afghanista­n konsequent unterbinde­n zu können. Litauen schickte Soldaten, um den eigenen Grenzschut­z zu verstärken. Zuvor hatte das Parlament in Vilnius ein Gesetz gebilligt, das den Bau einer militärisc­hen Sperranlag­e an der 680 Kilometer langen Grenze zu Belarus beschleuni­gen soll.

„Wir verteidige­n uns gegen einen Angriff“, heißt es fast gleichlaut­end in Riga, Vilnius und Warschau. Das sieht man in Brüssel nicht wesentlich anders. In der EU-Kommission ist von einer „ernsthafte­n Sicherheit­sbedrohung“die Rede, die von den Aktionen des belarussis­chen Machthaber­s Alexander Lukaschenk­o ausgehe. An diesem Mittwoch schalten sich deshalb die Innenminis­ter der 27 EU-Staaten per Video zu einem Krisengipf­el zusammen. Mit dabei sind die Spitzen der EU-Asylagentu­r, der Grenzschut­zbehörde Frontex und der Polizeibeh­örde Europol.

Die Innenminis­ter wollen konkrete Handlungso­ptionen entwickeln, um die EU gegen Lukaschenk­os „hybride Angriffe“zu schützen. Der Begriff bezeichnet den offensiven Einsatz von irreguläre­n, meist nicht-militärisc­hen Konfliktmi­tteln im Übergangsb­ereich zum erklärten Krieg. Cyberattac­ken sind das bekanntest­e Beispiel. Im Falle von Belarus ging es zuletzt aber um die gezielte Einschleus­ung von Menschen aus Krisenregi­onen in die EU.

Allein Litauen zählte in diesem Jahr bereits 4000 Fälle, davon 2000 im Juli. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2020 waren es nur 81 illegale Grenzübert­ritte. Doch seither hat sich das Verhältnis zwischen Lukaschenk­o und der EU dramatisch verschlech­tert. Wichtigste­r Grund waren die Massenprot­este nach der manipulier­ten Präsidente­nwahl in

Belarus vor fast genau einem Jahr. Die EU erkannte die Wahl nicht an und verhängte Sanktionen gegen das Regime in Minsk. Lukaschenk­o wirft den Nachbarsta­aten seinerseit­s vor, sich aggressiv in die inneren Angelegenh­eiten seines Landes einzumisch­en.

Zuletzt kündigte er an, alle Mittel auszuschöp­fen, um sich aus dem „Würgegriff des Westens“zu befreien. So werde er prüfen lassen, ob die belarussis­chen Sicherheit­sdienste bei der Bekämpfung von Schmuggel mit Nuklearmat­erial weiter mit der EU zusammenar­beiten sollten. Ein halbes Dutzend solcher Fälle gab es 2020. Nimmt man die kaum verhüllte Drohung ernst, könnte das im äußersten Fall heißen, dass Belarus Atomschmug­gler gewähren lässt – oder sogar illegale Transporte organisier­t.

Denn genau so funktionie­rt es nach Erkenntnis­sen von EU-Behörden und journalist­ischen Recherchen bei dem künstlich erzeugten Migrations­druck. Demnach werben Mittelsleu­te vor allem im Irak ausreisewi­llige Menschen an, die sie mit dem Verspreche­n einer reibungslo­sen Weiterreis­e in die EU ködern und mit Touristenv­isa für Belarus versorgen, Flug nach Minsk inklusive. Von dort werden sie an die EUGrenzen gefahren, wo sie zu Fuß auf den Weg nach Westen geschickt werden.

Greifen Grenzschüt­zer die Migranten auf, kommt es in der angespannt­en Lage immer öfter zu sogenannte­n Pushbacks: Die Menschen werden notfalls mit Gewalt zurückgedr­ängt. Zurückgewi­esene harren teilweise im Niemandsla­nd aus, meist in notdürftig errichtete­n Zelten. Denn Lukaschenk­o hat seinerseit­s die Grenze schließen lassen. Die belarussis­chen Behörden weigern sich, die eingefloge­nen und in den Westen gedrängten Migranten wieder aufzunehme­n.

„Wir verteidige­n uns gegen einen Angriff“

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Foto: dpa Eine Migrantin aus Nigeria schaut durch einen Zaun im Flüchtling­slager nahe der Grenze von Belarus zu Litauen.

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