Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Düstere Vergangenh­eit

Jahrzehnte­lang wurden Kinder der Ureinwohne­r „umerzogen“. Jetzt zeigt die Regierung Reue. Aber ist Versöhnung überhaupt möglich?

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Sydney Seit Archie Roach 1990 das Lied „Took The Children Away“(Sie haben die Kinder weggenomme­n) herausbrac­hte, gilt der Aborigine-Künstler als eine der wichtigste­n Stimmen der australisc­hen Ureinwohne­r. Der tieftrauri­ge Song ist so etwas wie die Hymne der „Stolen Generation­s“– also jener „gestohlene­n Generation­en“von Indigenen, die zwischen 1910 und 1970 ihren Familien entrissen wurden. In Heimen und Missionen sollten die Kinder „umerzogen“werden, ihre Herkunft und Sprache vergessen und die Kultur der europäisch­en Einwandere­r annehmen. Die Betroffene­n leiden bis heute, weil sie sich weder bei ihrem Volk noch in der Welt der Weißen heimisch fühlen. Seit Jahrzehnte­n forderten Aborigines-Verbände finanziell­e Entschädig­ungen für die Menschenre­chtsverlet­zungen. Jetzt haben sie einen wichtigen Sieg errungen.

Denn die Regierung in Canberra hat angekündig­t, eine solche Wiedergutm­achung auf den Weg zu bringen. Viele hatten schon nicht mehr daran geglaubt. „Ich habe gleichzeit­ig geweint und gelacht, meine Enkelin hat versucht, mich zu beruhigen“, zitierte der australisc­he Sender ABC die 78-jährige Eileen Cummings. Gleichzeit­ig sei sie traurig, dass viele Leidtragen­de dies nicht mehr erleben könnten. „Die Stolen Generation­s im Northern Territory haben sehr lange für diesen Tag gekämpft“, erklärte Cummings. Sie wurde als Vierjährig­e aus dem Siedlungsg­ebiet Arnhemland ihren Eltern weggenomme­n und auf die Insel Croker Island gebracht, wo es eine methodisti­sche Mission gab.

Viele sahen ihre Familien erst Jahre später wieder – oder nie mehr.

Laut Schätzunge­n waren zehn bis 30 Prozent aller indigenen Kinder betroffen. Vorzugswei­se handelte es sich um gemeinsame Kinder von Aborigines und Europäern, die ihren Eltern buchstäbli­ch aus den Armen gerissen wurden. Das heikle Thema wurde zwar in Musik und Film immer wieder behandelt, aber die Forderunge­n der Ureinwohne­r blieben lange ungehört.

Eindrucksv­oll erzählte 2002 etwa der australisc­he Regisseur Phillip Noyce von dem Grauen: Das Drama „Long Walk Home“erzählt die Geschichte von drei Aborigine-Kindern, die nach ihrer Entführung durch die Behörden 2000 Kilometer durch das Outback immer an einem Zaun entlang zu ihren Familien zurücklauf­en. Beim Lesen des Drehbuchs

seien ihm die Tränen gekommen. Jetzt weinen viele Aborigines – vor Erleichter­ung „Tränen der Freude und des Schmerzes“, wie ABC die Reaktionen beschrieb.

Umgerechne­t 236 Millionen Euro will die Regierung ab 2022 für Entschädig­ungen aufwenden. Premiermin­ister Scott Morrison sprach von einem „seit langem bestehende­n Problem von nationaler Bedeutung“, das nun angegangen werde. Sprecher der indigenen Völker begrüßten diesen ersten Schritt. „Viele aus den Gestohlene­n Generation­en hatten das Gefühl, dass sie den Kampf nie gewinnen könnten, dass die Regierung warten würde, bis sie alle starben, bevor sie etwas tut“, sagte Maisie Austin, Leiterin der „Stolen Generation­s Aboriginal Corporatio­n“. Sie sprach von einem „sehr emotionale­n, sehr aufregende­n“Moment.

Überlebend­e bekommen auch die Möglichkei­t, ihre Geschichte einem Regierungs­beamten zu erzählen, diese anerkennen zu lassen und eine persönlich­e oder schriftlic­he Entschuldi­gung zu erhalten. Dies könnte ein wichtiger Schritt in Richtung Heilung des australisc­hen Traumas sein. Das Vorhaben erinnert an die von Nelson Mandela eingesetzt­e Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n, die in den 1990er Jahren in Südafrika Verbrechen während der Apartheid untersucht­e. Opfer und Täter traten in einen Dialog, um eine Aussöhnung zu ermögliche­n. Ob das auch in Australien möglich ist, bleibt abzuwarten. Aborigines leben oft am Rande der Gesellscha­ft, sie sind oft von Armut, Alkoholism­us und Krankheit betroffen.

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Foto: Dean Lewins, dpa Die Forderunge­n von Australien­s Urein‰ wohnern nach Wiedergutm­achung blie‰ ben bisher ungehört.

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