Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Stich ins Herz

Eine junge Frau rammt in Augsburg bei einem offenbar harmlosen Streit einem 28-Jährigen ein Messer in die Brust. Sie wird wegen Totschlags verurteilt. Doch eine Frage bleibt offen

- VON KLAUS UTZNI

Augsburg Am frühen Abend des 25. November 2020 beobachten mehrere Zeugen im Schummerli­cht der Straßenlam­pen, wie drei Personen an einer Bushaltest­elle im Augsburger Stadtteil Pfersee scheinbar ganz harmlos miteinande­r rangeln. Aus der Schubserei wird urplötzlic­h tödlicher Ernst. Auf einmal greift sich einer der Beteiligte­n an den Hals, bricht zusammen. Ein Passant eilt hinzu, hört das Röcheln des Verletzten im Todeskampf, sieht, wie dessen Bauch voller Blut ist. Alle Hilfe kommt zu spät. Innerhalb kürzester Zeit ist der junge Mann tot. Ein einziger Stich mit einem Taschenmes­ser mitten ins Herz hat ihm das Leben genommen.

Warum der damals 28 Jahre alte Stefan D. Opfer einer tödlichen Messeratta­cke wurde, hat ein mehrwöchig­er Prozess zu klären versucht, der am Dienstag mit einem Urteil zu Ende ging. Die Jugendkamm­er beim Augsburger Landgerich­t hat Fabienne K., 20, die Frau, die zustach, wegen Totschlags zu einer Jugendstra­fe von sieben Jahren und zehn Monaten verurteilt.

Bei der Verkündung des Urteils bedauert der Vorsitzend­e Richter Lenart Hoesch, dass das Gericht letztendli­ch nicht habe klären können, warum die Angeklagte überhaupt zugestoche­n habe. Zahlreiche Zeugen sind gehört worden, auch solche, die das Tatgescheh­en verfolgt haben müssen. Teils konnten sich Zeugen alkoholbed­ingt nicht mehr genau erinnern. Was im Kopf von Fabienne K. vorging, als sie das bereits aufgeklapp­te Taschenmes­ser aus der Jackentasc­he zog und es dem Opfer blitzschne­ll und wuchtig in den Brustkorb rammte, bleibt auch am Ende des Prozesses im Dunkeln.

Es muss ein unbedeuten­der Anlass gewesen sein, der damals zwei kleine Gruppen junger Leute, die sich nicht kannten, in Streit geraten ließ. Fabienne K., ihr Freund und ein Kumpel hatten in den Wertachaue­n Party gemacht, waren auf dem Heimweg an der Bushaltest­elle vorbeigeko­mmen, an der auch Stefan D. stand. Der soll dem Freund der Angeklagte­n an den Po gegriffen haben. Die Gruppe um Fabienne K. kehrte noch einmal zurück, um Stefan zur Rede zu stellen.

Die Angeklagte räumt den tödlichen Messerstic­h ein, sagt aber, sie habe das nicht gewollt. Die 20-Jährige mit lila gefärbten Haaren, die das Prozessges­chehen teils apathisch verfolgt, beteuert, sie habe ihren Freund schützen wollen, sei in Panik geraten. Sie habe „Angst vor Männern“, sie sei zweimal vergewalti­gt worden, einmal nach einem Discobesuc­h, einmal sogar im Freizeitra­um des Bezirkskra­nkenhauses Augsburg von einem Mann, der an Gotteswahn litt. In beiden Fällen seien die Täter nicht verurteilt worden. Die Staatsanwa­ltschaft will erneute Ermittlung­en aufnehmen.

Der psychiatri­sche Gutachter Johannes Wittmann diagnostiz­iert bei Fabienne K. eine „posttrauma­tische Belastungs­störung“nach den Vergewalti­gungen sowie Anzeichen für eine Persönlich­keitsstöru­ng. Schon in der Kindheit litt die Angeklagte an epileptisc­hen Anfällen. Auch jetzt im Gerichtssa­al kann sie dem Geschehen nur nach Einnahme von Medikament­en folgen. In der Jugendabte­ilung des Aichacher Frauengefä­ngnisses, wo sie seit November einsitzt, hat sie 25 Kilo an Gewicht zugenommen. Erst zwei Tage vor der Urteilsver­kündung ist sie im Gefängnis nach einem Schwächean­fall gestürzt, hat sich an der linken Hand verletzt. Auch kurz nach der Urteilsver­kündung bricht sie im Saal zusammen. Ihre Verteidige­r Werner Ruisinger und Florian Schraml sagen, ihre Mandantin erscheine äußerlich ruhig, sei innerlich aber völlig aufgewühlt, habe sich während der Verhandlun­g die Finger blutig aufgerisse­n.

Nach ihrer Festnahme im November, so erinnert sich eine Polizistin, sei Fabienne K. im Polizeiarr­est „fix und fertig“gewesen. Die junge Frau habe aus Toilettenp­apier eine Krippe gebastelt. Die 20-Jährige hat aus der Haft heraus der Mutter des Opfers einen Entschuldi­gungsbrief geschriebe­n, dessen Inhalt die Familie nicht akzeptiert hat. Die Mutter und der Bruder des Opfers, die als Nebenkläge­r, vertreten von den Anwälten Michael Weiss und Nicolas A. Frühsorger, den Prozess verfolgen, weisen darauf hin, dass ihr Sohn und Bruder nicht mehr auf diese Welt zurückgeho­lt werden kann.

In ihrem „letzten Wort“vor Gericht lässt Fabienne K. religiöses Empfinden durchschei­nen. Mit leiser Stimme sagt sie: „Es tut mir leid. Ich hoffe, dass er jetzt an einem besseren Ort ist, wo er Liebe erfährt. Und ich hoffe, dass er mir vergibt.“

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Foto: Annette Zoepf Blumen, Kerzen und ein Foto des Opfers säumten in den Tagen nach der tödlichen Messeratta­cke den Boden neben der Bushaltest­elle in Pfersee.
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Foto: Lennart Preiss, dpa Die Vermissten­suche wurde am Dienstag eingestell­t.

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