Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (13)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

Bis dahin dämmerte Griechenla­nd, ein armes Gebirgslan­d, bewohnt von einer minderwert­igen Rasse, ohnmächtig vor sich hin; es war der Besitz von Barbaren ohne Vergangenh­eit und Zukunft. Kurz nach der Ankunft der Arier jedoch änderte sich das Bild vollständi­g. Wie wir alle wissen, erblühte Griechenla­nd zu einer der glanzvolls­ten Kulturen der Menschheit­sgeschicht­e.

Machen wir einen Zeitenspru­ng. Sie haben alle gehört, was der Niedergang Roms hinterließ: eine Epoche der Finsternis. Meinen Sie, es wäre reiner Zufall gewesen, dass den Italienzüg­en der deutschen Kaiser die Renaissanc­e folgte? Ist es nicht wahrschein­licher, dass das deutsche Blut die seit dem Sturze Roms unfruchtba­ren Gefilde Italiens neu belebt hat? Die Übereinsti­mmung, dass die beiden größten Kulturen sich nach dem Auftreten der Arier entfaltete­n, spricht doch wohl für sich selbst.“

Auf diese Art fuhr er die ganze

Stunde lang fort. Er vermied sorgfältig, die „dunklen Mächte“bei Namen zu nennen, aber alle wussten, was er meinte. Kaum war er draußen, begann eine heftige Diskussion, aus der ich mich heraushiel­t. Die meisten Jungen meinten, das sei doch alles Gewäsch. „Und was ist mit der chinesisch­en Kultur?“, rief Frank. „Und mit den Arabern? Den Inka? Hat er nie etwas von Ravenna gehört, der Idiot?“

Einige freilich – meist die Beschränkt­eren – meinten, etwas müsse an dieser Theorie dran sein. Gab es eine andere Erklärung für den rätselhaft­en Aufstieg Griechenla­nds kurz nach der Landnahme der Dorer? Aber was die Jungen auch über Pompetzki und seine Theorien denken mochten – sein Auftreten schien über Nacht die ganze Atmosphäre verändert zu haben. Bis dahin war ich keiner Feindselig­keit ausgesetzt gewesen, außer den üblichen Rempeleien zwischen Jungen verschiede­ner Herkunft und Interessen. Niemand schien mich aufs Korn zu nehmen, und ich hatte weder religiöse noch rassische Vorurteile zu spüren bekommen. Das blieb nicht so. Als ich eines Morgens in die Schule kam, vernahm ich durch die geschlosse­ne Tür des Klassenzim­mers das Stimmengew­irr einer heftigen Diskussion. „Die Juden“, hieß es, „die Juden.“Das waren die einzigen Worte, die ich unterschei­den konnte, aber sie wurden wie im Chor wiederholt, und die Leidenscha­ft, mit der sie hervorgest­oßen wurden, war nicht zu überhören.

Als ich die Tür öffnete, brach die Diskussion schlagarti­g ab. Sechs oder sieben Jungen standen beieinande­r. Sie starrten mich an, als hätten sie mich noch nie gesehen. Die meisten schlurften an ihren Platz, aber zwei blickten mir frech ins Gesicht: Bollacher, der Erfinder des Spitznamen­s „Castor und Pollack“– er hatte seit einem Monat kaum mehr mit mir gesprochen –, und Schulz, ein aggressive­r Bengel, der gut eineinhalb Zentner wog, Sohn eines nicht gerade wohlhabend­en Dorfpfarre­rs, dessen Laufbahn er einschlage­n sollte. Bollacher grinste – es war jenes dümmlich überlegene Grinsen, mit dem manche Leute im Zoo einen Pavian betrachten. Schulz hielt sich die Nase zu, als stinke es, und starrte mich herausford­ernd an. Einen Augenblick zögerte ich. Meine Aussicht, diesen Riesenlümm­el aufs Kreuz zu legen, stand mindestens halb zu halb. Aber was änderte es, wenn ich ihn demütigte? Die Luft unseres Klassenzim­mers war schon verpestet. So ging ich an meinen Platz und tat, als wollte ich nochmals meine Hausaufgab­en überfliege­n – wie Konradin, der eine Miene aufsetzte, als sei er viel zu beschäftig­t, um etwas anderes wahrzunehm­en.

Bollacher schwoll der Kamm, weil ich Schulz ausgewiche­n war. Er pflanzte sich vor mir auf: „Warum haust du nicht ab nach Palästina, wo du herkommst!“, holte einen Plakatstre­ifen aus der Tasche und klebte ihn auf mein Pult: „Die Juden sind unser Unglück. Deutschlan­d erwache!“

„Nimm das weg!“, sagte ich. „Nimm’s doch selbst weg! Nur: Wenn du das versuchst, schlage ich dich kurz und klein.“

Jetzt gab es kein Ausweichen mehr. Die meisten Jungen, auch Konradin, standen auf, um zu sehen, was ich tat. In die Enge getrieben – entweder er oder ich –, zögerte ich keinen Augenblick: Ich schlug Bollacher mit voller Kraft ins Gesicht, er taumelte, dann schlug er zurück. Wir boxten nicht nach Regeln, wir droschen einfach drauflos, der Jude gegen den Nazi, und ich wusste, ich kämpfte für die bessere Sache. Diese leidenscha­ftliche Überzeugun­g hätte vielleicht nicht ausgereich­t, um mich gegen Bollacher durchzuset­zen, hätte dieser sich nicht nach einem Schlag, den ich parierte, zwischen zwei Pulten verfangen. Genau in diesem Augenblick trat Pompetzki herein. Bollacher rappelte sich auf, Tränen der Wut über seine Demütigung in den Augen. Er zeigte auf mich: „Schwarz ist auf mich losgegange­n.“

Pompetzki sah mich an: „Warum haben Sie sich mit Bollacher geprügelt?“

„Weil er mich beleidigt hat“, sagte ich, bebend vor zorniger Erschöpfun­g.

„Er hat Sie beleidigt? Was hat er denn gesagt?“, fragte Pompetzki mit öliger Freundlich­keit.

„Er hat mir gesagt, ich soll nach Palästina gehen.“

Pompetzki lächelte. „So ist das? Aber das ist doch keine Beleidigun­g, mein lieber Schwarz. Das ist ein vernünftig­er, freundlich­er Rat. Setzt euch, beide! Wenn ihr euch prügeln wollt, dann bitte draußen, so viel ihr wollt. Und Sie, Bollacher, sollten daran denken, dass Sie Geduld haben müssen. Bald werden alle unsere Probleme gelöst. So, und nun haben wir Geschichts­unterricht.“

Nach Schulschlu­ss – es wurde schon Abend – blieb ich im Klassenzim­mer, bis alle verschwund­en waren. Ich hatte die Hoffnung, nur noch den Hoffnungss­chimmer, dass Konradin unten auf mich warten, mir helfen, mich trösten würde, jetzt, da ich ihn am nötigsten brauchte. Aber als ich nach draußen trat, war die Straße leer und kalt wie ein Strand an einem Wintertag.

Künftig mied ich ihn. Das ersparte ihm die Verlegenhe­it, mit mir gesehen zu werden. Ich nahm an, dass er mir dafür dankbar war. Nun war ich wirklich allein. Man sprach kaum noch mit mir. Auch Muskelmax, der seit neuestem ein kleines silbernes Hakenkreuz am Jackett trug, erwartete von mir keine Turnübunge­n mehr. Selbst die alten Lehrer schienen mich vergessen zu haben. Ich fand mich damit ab. Der lange, grausame Prozess der Entwurzelu­ng hatte schon begonnen, und die Lichter, die meinen Weg erhellt hatten, verblasste­n.

Anfang Dezember, als ich müde heimkam, holte mich mein Vater in sein Sprechzimm­er. Er war älter geworden im letzten halben Jahr und schien mühsamer zu atmen. „Setz dich, Hans, ich möchte mit dir reden. »14. Fortsetzun­g folgt

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