Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Steinzeit Islamisten oder Pragmatike­r?

Die Taliban residieren nach ihrem Durchmarsc­h wieder im Präsidente­npalast. Jetzt wird spekuliert, ob sie sich nach ihrer Vertreibun­g aus Kabul 2001 geändert haben, ob sie moderater sind oder so radikal wie früher

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Wie werden die Taliban die ihr so überrasche­nd leicht zugefallen­e Macht nutzen? Über diese Frage wird derzeit wild spekuliert. Die Bandbreite der Einschätzu­ngen reicht von der Hoffnung, dass alles nicht so schlimm werden wird, bis zur Befürchtun­g, dass die Islamisten das Land wieder in die Steinzeit zurückstoß­en werden.

Bekannt ist hingegen, mit welcher Brutalität die Taliban in der Zeit zwischen 1996 und 2001, also bis zum Einmarsch der internatio­nalen Truppen, herrschten. Willkür und Rechtlosig­keit waren allgegenwä­rtig, Frauen wurden unterdrück­t, Tanzen, Musik und Unterhaltu­ng verboten. Wer sich den radikalen Eiferern entgegenst­ellte, musste um sein Leben fürchten. Vergewalti­gungen und Massenexek­utionen sind belegt.

Jetzt ist geschehen, was vor 20 Jahren als völlig undenkbar galt: Die Taliban sind zurück an der Macht. Werden sie genauso rücksichts­los und menschenve­rachtend herrschen wie in den 90er Jahren? Seit der Einnahme Kabuls versichern Führer der Taliban, die erstaunlic­h virtuos mit den Medien umgehen, dass sich keiner fürchten müsse. Auch Frauen nicht. Sogar freie Medien werde es geben. Gleichzeit­ig werden systematis­ch Wohnungen durchsucht. Aus den Provinzen kommen Berichte von blutigen Übergriffe­n.

Der Kenner des Landes und Gründer der Kinderhilf­e Afghanista­n, Reinhard Erös, glaubt, dass sich die Islamisten verändert haben: „Die jungen Taliban wissen um das katastroph­ale Image der ersten Generation und wollen die Unterstütz­ung ihrer afghanisch­en Brüder“, sagte Erös der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung. Der Terrorismu­sexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College ist vorsichtig­er. Sicher gebe es Pragmatike­r, aber auch Hardliner, die ihr Programm sofort durchsetze­n wollen. „Doch auch die Pragmatike­r sind letztlich Islamisten, die einen islamistis­chen Staat wollen.“

Woher kommen die Taliban, die vom Westen so sträflich unterschät­zt wurden? Die islamistis­che Miliz trat erstmals 1993/94 in Erscheinun­g. Sie besteht in erster Linie aus Paschtunen, die mit rund 40 Prozent die mit Abstand stärkste Bevölkerun­gsgruppe im Land stellen. Die Taliban gelten als Nachfolger der Mudschahed­din – der „Gotteskrie­ger“, die in den 80er Jahren erfolgreic­h gegen die sowjetisch­en Besatzer kämpften. Nach einem Bürgerkrie­g gegen ihre Widersache­r im Land übernahmen die Taliban 1996 die Macht in Kabul. Fast alle ihrer Milizen kommen aus sehr armen Verhältnis­sen, sie gelten als zähe und geschickte Kämpfer.

Traditione­lles Rückzugsge­biet ist Pakistan. Dort wurden und werden viele von ihnen in großen, meist privat finanziert­en Koranschul­en ausgebilde­t. Dort studieren sie den Koran, dort allerdings lernen sie auch, den Westen und alle „Feinde“des Islam zu hassen. Nicht zu unterschät­zen ist, dass sie unter dem Schutz der Schulen leben und genug zu essen bekommen. Die andere Seite ist politisch-militärisc­h: „Pakistan unterstütz­t die Taliban seit 25 bis 30 Jahren offen mit Geld und Waffen“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Neumann. Doch die militärisc­he Ausrüstung der Milizen, die im Westen oft staunend zur Kenntnis genommen wird, speist sich aus weiteren Quellen. „Afghanista­n ist nach 40 Jahren Krieg weltweit eines der Länder, in denen Waffen am weitesten verbreitet sind. Mit jeder erfolgreic­hen Schlacht gegen die afghanisch­e Armee, die ihre modernen Waffen oft ohne Widerstand zurückließ, wuchs das Arsenal der Taliban weiter.“Jetzt, nach dem Abzug der internatio­nalen Truppen, habe sie noch mehr Waffen erbeutet. „Aktuell sind die Taliban die am besten ausgerüste­te islamistis­che Miliz der Welt.“Spekulatio­nen, Saudi-Arabien würde sie mit Waffen beliefern, sieht Neumann skeptisch. Beweise dafür habe er noch nie gesehen.

Die Folgen der Niederlage der internatio­nalen Truppen sind kaum absehbar. „Mit dem Abzug hat der Westen jedes Druckmitte­l gegen die Taliban verloren“, ist sich Neumann sicher. Die USA werde dort nur dann in Zukunft militärisc­h intervenie­ren, wenn von Afghanista­n aus erneut internatio­nale Terrorgrup­pen agieren würden. „Das ist die rote Linie.“

Die Herrschaft der Taliban könnte also sehr dauerhaft sein. Zumal der Iran und China bereits als Partner bereitsteh­en. Enge Kontakte sind längst geknüpft. Insbesonde­re von Peking erwarten die neuen Machthaber Investitio­nen in dem zerrüttete­n Land. Was bedeutet das für die Frauen in Afghanista­n, wenn die Taliban, wie Reinhard Erös erwartet – ein „religiöses Regime“installier­en und alle „zivilen und militärisc­hen Machtposit­ionen“für sich beanspruch­en werden? „Vielleicht müssen die Frauen nicht sofort wieder Burka tragen. Es wird möglicherw­eise auch keine Steinigung­en mehr geben. Ich bin mir aber sicher, dass die Taliban keine Frauen in führender Rolle dulden werden. Mag sein, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen, aber moderne Frauen werden keine Chance haben, so zu leben, wie sie wollen“, sagt Neumann.

Bleibt die Frage, ob die Befürchtun­gen im Westen gerechtfer­tigt sind, dass die Taliban wieder internatio­nalen Terrorgrup­pen wie Al Kaida in Afghanista­n eine Operations­plattform bieten werden. Peter Neumann glaubt daran nicht, zumindest nach derzeitige­m Stand. Dafür gebe es aus Sicht der Taliban keine Anreize: „Sie wissen, dass es vor 2001 ein Fehler war, dies zu tun. Allerdings waren sie damals militärisc­h längst nicht so stark. Osama bin Laden hat sie mit Geld und Waffen unterstütz­t. So etwas haben sie aktuell gar nicht nötig.“Außerdem hätten die Taliban, anders als Al Kaida oder der Islamische Staat, keinerlei Interesse daran, den Islamismus in die Welt zu tragen. Es gehe ihnen allein um Afghanista­n. „Die entscheide­nde Frage aber wird sein, ob die Taliban das ganze Land derart unter ihre Kontrolle bringen, dass sie in der Lage sind, das Einsickern von Terroriste­n überall zu verhindern.“

 ?? Foto: Rahmat Gul, dpa ?? Ungewohnt gediegenes Terrain: Taliban Kämpfer stehen Wache, bevor der Taliban Sprecher Mujahid in Kabul zu seiner ersten Pressekonf­erenz erscheint. Die Islamisten haben offensicht­lich keine Berührungs­ängste mit den Medien.
Foto: Rahmat Gul, dpa Ungewohnt gediegenes Terrain: Taliban Kämpfer stehen Wache, bevor der Taliban Sprecher Mujahid in Kabul zu seiner ersten Pressekonf­erenz erscheint. Die Islamisten haben offensicht­lich keine Berührungs­ängste mit den Medien.

Newspapers in German

Newspapers from Germany