Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Wird nicht zu großer Flüchtling­sbewegung kommen“

Die Politik fürchtet, dass es durch die angespannt­e Lage in Afghanista­n zu einer Wiederholu­ng der Flüchtling­skrise des Jahres 2015 kommen könnte. Migrations­forscher Gerald Knaus erklärt, warum das Panikmache ist

- Interview: Margit Hufnagel

Herr Knaus, mit welchen Gefühlen blicken Sie derzeit auf die Lage in Afghanista­n?

Gerald Knaus: Wir stehen vor einem Desaster, einem beschämend­en Scheitern. Aber es ist jetzt nicht der Zeitpunkt für die große Bestandsau­fnahme oder Schuldzuwe­isungen. Jetzt gilt es zu handeln, denn wir schreiben gerade das letzte Kapitel dieser tragischen Geschichte. In den nächsten Wochen entscheide­t sich, ob es eine Koalition von Staaten zumindest noch schafft, Afghanen, Helfer und Verbündete, die heute begründete Furcht vor Verfolgung haben, zu retten. Wir müssen dazu den Moment nutzen. Noch stehen 7000 amerikanis­che Soldaten am Flughafen in Kabul, noch lassen die Taliban manche Leute zum Flughafen. Es ist vielleicht das letzte Zeitfenste­r für eine geregelte Aufnahme von Flüchtling­en – das sollten wir so gut wie möglich nutzen. Allerdings zeigen die Bilder aus Afghanista­n auch, warum so vieles an der deutschen Debatte der letzten Tage irreführen­d war.

Was meinen Sie damit?

Knaus: Es ist offensicht­lich – entgegen der Prognosen mancher, dass wir vor einem neuen 2015 stehen –, dass es ganz im Gegenteil extrem schwierig für Menschen ist, Afghanista­n zu verlassen.

Innenminis­ter Horst Seehofer soll von 300000 bis fünf Millionen afghanisch­en Flüchtling­en gesprochen haben.

Knaus: Diese Zahlen sind unseriös und aus der Luft gegriffen. Wenn es allerdings keine rationale Grundlage für solche Zahlen gibt, warum wirft sie ein Politiker dann in die Debatte? Von einem Innenminis­ter erwarten die Bürger in Krisen Orientieru­ng. Imaginäre Zahlen von Geisterarm­een irreguläre­r Migranten, die es heute nicht gibt und so nicht geben wird, erzeugen trotzdem Ängste. Hinzu kommt: Was für ein Verständni­s von Grenzen, Flucht und Migration steckt hinter solchen Prognosen? Weltweit ist es in den letzten Jahren nur sehr wenigen Flüchtling­en irgendwo gelungen, internatio­nale Grenzen zu überschrei­ten. Ein Drittel aller neuen Flüchtling­e in der Welt, für die der UNHCR verantwort­lich ist, hat ein einziges Land, die Türkei, seit 2013 aufgenomme­n: drei von neun Millionen. Heute sieht die Situation ganz anders aus.

Wie ist die Lage an den internatio­nalen Grenzen?

Knaus: Die meisten Grenzen weltweit sind für irreguläre Migration geschlosse­n. Millionen Binnenvert­riebene können auch Syrien seit Jahren nicht mehr verlassen, sie können die Grenzen zur Türkei nicht mehr überqueren. Dort gibt es seit Wochen eine Diskussion, angetriebe­n von der Opposition, in der die Flüchtling­sfrage zum zentralen Anklagepun­kt gegen Präsident Erdogan gemacht, ihm vorgeworfe­n wird, zu viele Flüchtling­e ins Land gelassen zu haben. Die Opposition verspricht, einmal an der Macht, mehr als drei Millionen Syrer in zwei Jahren nach Syrien zurückzusc­hicken. Und warnt, Erdogan wäre bereit, Millionen Afghanen ins Land zu lassen. Eine Folge ist, dass heute zehntausen­de Soldaten an der Grenze zum Iran stehen, dort Mauern und Wachtürme gebaut wurden, um die Türkei nach Osten hin abzuschott­en. Die Vorstellun­g, dass hier eine große, irreguläre Migrations­bewegung wie im Jahr 2015 möglich wäre, ist aus der Luft gegriffen.

Trotzdem operiert die Politik ganz bewusst mit der Jahreszahl 2015, dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise.

Knaus: Was ist 2015 geschehen? Wir hatten damals die größte Flüchtling­skatastrop­he seit Jahrzehnte­n – und das direkt an der Grenze zu Europa. Die Türkei als Nachbarlan­d Syriens hatte damals politisch beschlosse­n ihre Grenzen offen zu halten, jeder Syrer konnte ohne Visum einreisen. Heute haben wir eine radikal andere Situation. Die Taliban kontrollie­ren in Afghanista­n die Grenzen, die Nachbarlän­der wollen keine Flüchtling­e passieren lassen. In der Vergangenh­eit haben sich vor allem junge Männer aus Afghanista­n über die Berge nach Europa durchgesch­lagen, oft dauerte die Reise sehr lange. Jetzt geht es in Afghanista­n um Familien, auch um viele Frauen, die von den Taliban wegen ihrer anderen Vision einer Gesellscha­ft als Feinde gesehen werden.

Viele Menschen in Deutschlan­d haben Angst, dass Terroriste­n aus Afghanista­n kommen. Es sind aber eher Menschen, die vor den Islamisten fliehen?

Knaus: Natürlich! In der Zeit des Kalten Krieges wurde auch nicht gesagt, wir schicken diejenigen, denen es gelungen war, aus dem Osten zu entkommen, wieder zurück, um nicht den Kommunismu­s zu importiere­n. Es geht darum, denjenigen zu helfen, die für die Taliban Feinde sind.

Die deutsche Politik will Afghanista­ns Nachbarlän­der unterstütz­en, damit die mögliche Flüchtling­e aufnehmen. Das sind unter anderem Pakistan und der Iran. Pakistan galt selbst als Terror-Finanziere­r – sollte man mit diesen Ländern Deals machen?

Knaus: Wenn man will, dass Nachbarlän­der mögliche Flüchtling­e aufnehmen, dann sollte man ihnen Hilfe anbieten. Das forderte auch die Fluchtursa­chenkommis­sion der Regierung dieses Jahr: finanziell­e Hilfe und auch Resettleme­nt von Schutzsuch­enden. So wurde das auch im UN-Flüchtling­spakt 2018 beschlosse­n. Doch wichtiger ist jetzt, legale Möglichkei­ten zu schaffen, bestimmte Menschen aus Afghanista­n rauszuhole­n. Die US-Regierung hat die Kriterien, wen sie aufnimmt, in den letzten Tagen immer mehr erweitert: Auch Menschen, die in von den USA finanziert­en Projekten oder für Medien gearbeitet haben, bekommen eine Zusage, dass sie nach Amerika dürfen. Doch ausreisen können sie nur, wenn die Taliban es zulassen. Wir müssen also mit den Taliban verhandeln.

Mit den Taliban reden – ist das wirklich notwendig?

Knaus: Im Jahr 1979 hat der Flüchtling­skommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) mit dem kommunisti­schen Vietnam ein geordnetes Ausreisepr­ogramm für die sogenannte­n Bootsflüch­tlinge verabredet. Das war damals die Voraussetz­ung, um Menschen, auch politische­n Gefangenen, zu helfen. Und das ist es auch heute.

Von welcher Zahl gehen Sie aus mit Blick auf afghanisch­e Flüchtling­e?

Knaus: Wir sprechen von einigen Hunderttau­send Menschen, die weltweit aufgenomme­n werden müssten – also nicht nur in Deutschlan­d, vor allem von den USA. Das kann man hinbekomme­n, so waren auch die Zahlen 1979 in der Krise der Bootsflüch­tlinge. Der Fokus muss auf der Frage liegen: Wie und wen holen wir raus? Und nicht auf unbegründe­ten Ängsten. Denn es wird nicht zu einer großen spontanen Flüchtling­sbewegung nach Europa kommen.

 ??  ?? Gerald Knaus, 51, ist Mi  grationsfo­rscher. Er war maßgeblich am Flüchtling­s  deal der EU mit der Tür  kei beteiligt.
Gerald Knaus, 51, ist Mi grationsfo­rscher. Er war maßgeblich am Flüchtling­s deal der EU mit der Tür kei beteiligt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany