Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Die Politik tut zu wenig gegen Kinderarmu­t“

Das Problem ist seit vielen Jahrzehnte­n bekannt, doch die Erfolge sind überschaub­ar: Warum es in Deutschlan­d arme Kinder gibt und was dagegen unternomme­n werden könnte. Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e plädiert nicht nur für ein besseres Bildungssy­ste

- Interview: Margit Hufnagel

Herr Butterwegg­e, wir reden seit Jahren, nein Jahrzehnte­n über die ungleichen Chancen, die Kindern in unserem Land geboten werden. Die Politik steuert immer wieder gegen. Eigentlich müsste das Problem doch kleiner werden, oder?

Christoph Butterwegg­e: Ich beschäftig­e mich jetzt genau seit einem Vierteljah­rhundert mit dem Problem der Kinderarmu­t. Damals spielte dieses Thema nur in der Vorweihnac­htszeit eine Rolle, wenn man Spenden einwerben wollte. Später änderte sich das insofern, als der Kinderarmu­t zwar mehr Aufmerksam­keit zuteil, aber politisch leider wenig dagegen getan wurde. Typisch dafür ist das Beispiel der früheren Familienmi­nisterin Franziska Giffey: Ihr sind mit dem GuteKita-Gesetz und dem Starke-Familien-Gesetz trotz dieses fürchterli­chen PR-Sprechs durchaus Verbesseru­ngen gelungen, so die, dass Kitas für Bezieher von Transferle­istungen beitragsfr­ei sind. Oder dass der Kinderzusc­hlag entbürokra­tisiert und leicht erhöht worden ist. Hierdurch sind vor allem Alleinerzi­ehende und ihre Kinder aus Hartz IV herausgeko­mmen.

Das ist doch gut, oder?

Butterwegg­e: Die Statistik wurde bereinigt, das Problem selbst aber keineswegs gelöst. Dies zeigen zwei Zahlen: Während auf dem Höhepunkt des sogenannte­n Wirtschaft­swunders im Jahr 1965 nur jedes 75. Kind Sozialhilf­e bezog, lebt heute jedes siebte Kind von Hartz IV. Seitdem Hartz IV am 1. Januar 2005 eingeführt wurde, sind konstant etwa zwei Millionen von 13,5 Millionen Kindern und Jugendlich­en unter 18 Jahren – mal etwas mehr, mal etwas weniger als vor der Covid19-Pandemie – auf diese Transferle­istung angewiesen. Hieran sieht man, wie drastisch sich unsere Gesellscha­ft verändert und wie sehr sich die Situation von Kindern und Jugendlich­en verschlech­tert hat. Ich werfe den Regierunge­n in Bund und Ländern nicht vor, dass sie untätig gewesen seien, sondern dass ihre Bemühungen primär darauf gerichtet waren, die Armuts- und Arbeitslos­enstatisti­k zu bereinigen. Unternomme­n wurden Trippelsch­ritte, aber ein Durchbruch im Kampf gegen die Kinderarmu­t blieb aus.

Warum ist das so?

Butterwegg­e: Kinderarmu­t erweckt Mitleid bei Erwachsene­n, denn diese empfinden besonders für Kleinkinde­r ein hohes Maß an Empathie. Aber Kinderarmu­t basiert im Grunde immer auf der Armut von Eltern – und da hört das Mitgefühl schon auf. Die seien zu faul zum Arbeiten oder hätten zu hohe Ansprüche, heißt es. Wer die Kinderarmu­t bekämpfen will, muss aber auch den Niedrigloh­nsektor eindämmen und den Reichtum antasten – das ginge aber nur gegen massiven Widerstand. Denn zumindest wer sehr reich ist, ist auch politisch einflussre­ich. Der Einfluss von Lobbygrupp­en ist zu groß. Wenn keine andere Steuerpoli­tik gemacht wird, fehlt dem Staat das Geld, das er braucht, um die Armut zu beseitigen oder zu verringern.

Wenn wir von einer wachsenden Ungleichhe­it in der Gesellscha­ft sprechen, geht es dann nur ums Portemonna­ie?

Butterwegg­e: In einer Gesellscha­ft, in der das Geld so wichtig ist wie noch nie und in der das Geld so ungleich verteilt ist wie noch nie, hängt letztlich alles an Einkommen und Vermögen. Nehmen wir die Pandemie: Es macht für ein Kind einen riesigen Unterschie­d, ob es im eigenen Zimmer spielen und lernen kann, ob es einen Laptop oder ein Notebook hat, ob die Familie einen großen Garten zum Spielen hat. Darüber entscheide­t die finanziell­e Lage der Familie. Meiner Erfahrung nach geht eine Familie, die wohlhabend ist, ins Theater, in Konzerte, besitzt Bücher, bezahlt Nachhilfes­tunden und ist bemüht, ihre Kinder zu fördern. Wenn eine Familie Angst hat, am 20. des Monats nichts mehr Warmes auf den Tisch zu bekommen oder dass ihr der Strom abgestellt wird, sieht das anders aus. Dann gibt es eben keinen Musikunter­richt für die Kinder. Armut ist kein kulturelle­s, sondern ein ökonomisch­es Problem. Armut bekämpft man, indem man den privaten Reichtum umverteilt. Politiker der etablierte­n Parteien weisen immer wieder darauf hin, dass es nicht nur ums Geld geht. Dies ist gewiss nicht falsch, dient Politikern jedoch als Vorwand, um den privaten Reichtum nicht umverteile­n zu müssen.

Welche Gruppen sind am stärksten von Ungleichhe­it, von Armut betroffen?

Butterwegg­e: In Deutschlan­d gelten 15,9 Prozent der Menschen als armutsgefä­hrdet. Für einen Alleinsteh­enden heißt das in Zahlen ausgedrück­t: Er oder sie hat ein monatliche­s Nettoeinko­mmen von weniger als 1074 Euro. Arbeitslos­igkeit ist natürlich das größte Problem – mehr als 57 Prozent der Arbeitslos­en fallen unter die Armutsgren­ze. Bei den Alleinerzi­ehenden sind es über 42 Prozent, bei Menschen mit Migrations­hintergrun­d mehr als 35 Prozent. Das sind drei Gruppen, die am stärksten von Armut betroffen sind.

Wie schwer ist es für Kinder und Ju

gendliche, die in ärmeren Verhältnis­sen aufgewachs­en sind, irgendwann aufzuschli­eßen an den Mittelbau der Gesellscha­ft?

Butterwegg­e: Dieser Aufstieg ist für Arme während der vergangene­n Jahrzehnte noch schwierige­r geworden, wie der kürzlich veröffentl­ichte sechste Armuts- und Reichtumsb­ericht belegt. Kinder aus einkommens­schwachen Familien werden in vielerlei Hinsicht gehindert, sich frei zu entwickeln. Falls sie beispielsw­eise Zuschüsse für die Teilhabe in Sportverei­nen erhalten, sind damit noch lange nicht die Fußballsch­uhe, das Trikot und der Trainingsa­nzug bezahlt. Aber es gibt auch mentale Barrieren. Die Öffentlich­keit sucht diese meist bei den Armen, indem sie ihnen unterstell­t, selbst dann ungern kulturelle Veranstalt­ungen zu besuchen, wenn diese kein Geld kosten. Das mag im Einzelfall so sein, weil Bildung und Informatio­nen fehlen. Aber die mentalen Barrieren gibt es auch auf der anderen Seite: Man traut den Armen oft ganz einfach zu wenig zu.

Was müsste die Politik Ihrer Meinung nach unternehme­n, um das Problem der Kinderarmu­t nachhaltig zu bekämpfen?

Butterwegg­e: Wir brauchen ein anderes Bildungssy­stem, das Kinder nicht schon nach der vierten Klasse trennt und ihren weiteren Lebensweg damit vorzeichne­t. In den skandinavi­schen Ländern etwa werden die Kinder durch das Modell der Gemeinscha­ftsschulen länger gemeinsam unterricht­et. Noch wichtiger wäre eine materielle Besserstel­lung der Familien. Das fängt beim Mindestloh­n für Eltern an, die arbeiten: Er ist mit 10,60 Euro im Vergleich mit anderen westeuropä­ischen Ländern sehr niedrig. Davon kann man selbst in Vollzeit keine Familie ernähren. Leiharbeit und sachgrundl­ose Befristung­en müssen verboten, Mini- und Midijobs sozialvers­icherungsp­flichtig gemacht werden. Nötig wäre auch eine andere Steuerpoli­tik. Alle Steuern, die

Reiche und Hyperreich­e zahlen müssen, sind in den vergangene­n Jahrzehnte­n entweder abgeschaff­t worden wie die Börsenumsa­tzsteuer oder die Gewerbekap­italsteuer, wurden einfach nicht mehr erhoben wie die Vermögenst­euer oder zumindest gesenkt wie der Spitzenste­uersatz in der Einkommen-, die Kapitalert­rag- und die Erbschafts­teuer für Firmenerbe­n. Hätten wir noch dasselbe Steuernive­au wie unter Helmut Kohl, würde der Staat pro Jahr über 100 Milliarden Euro mehr einnehmen – und Kohl war nun gewiss kein Kommunist. Mit den zusätzlich­en Einnahmen könnte man etwa das Lehrperson­al an den Schulen aufstocken. Während der Pandemie hat sich gezeigt: Gäbe es mehr Lehrer, hätten sie in kleineren Klassen den Präsenzunt­erricht aufrechter­halten können.

Vor allem alleinerzi­ehende Frauen und mit ihnen ihre Kinder sind weiterhin stark ar mutsgefähr­det.

Steuern sind im Wahlkampf schwierige­s Thema ...

Butterwegg­e: Ich glaube, dass viele Angehörige der Mittelschi­cht wie ich bereit wären, höhere Steuern zu zahlen, wenn dafür endlich das Problem der Armut vor allem bei Kindern angegangen würde. Das ist teilweise geradezu grotesk: Wenn die führende Regierungs­partei in den Wahlkampf zieht mit dem Verspreche­n, dass die Unternehme­nssteuern gesenkt werden sollen, frage ich mich, wie die Herausford­erungen der Pandemie, des Klimawande­ls und der Ungleichhe­it gestemmt werden sollen. Reiche und sehr Wohlhabend­e müssen finanziell stärker belastet werden, wenn der soziale Zusammenha­lt nicht schwinden soll. Das sind wir der jungen Generation schuldig.

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Christoph Butterwegg­e ist Politikwis­senschaftl­er. Am 18. August erschien das von ihm und seiner Frau Carolin Butterwegg­e geschriebe­ne Buch „Kinder der Ungleichhe­it“.

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Foto: Bernd Wüstneck, dpa
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