Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Sechs Prozent Zins ist einkassier­t

Das Bundesverf­assungsger­icht hat einer jahrzehnte­langen Praxis, mit der der Staat Milliarden verdient hat, einen Riegel vorgeschob­en. Wer auf Rückzahlun­g von Steuerzins­en hoffen kann

- Anja Semmelroch, dpa

Karlsruhe Nennenswer­te Zinsen gibt es so gut wie nirgendwo mehr, das wissen Sparerinne­n und Sparer aus leidvoller Erfahrung. Einzige Ausnahme: die Finanzbehö­rden. Sie hielten unverdross­en an ihrem festgelegt­en Steuerzins von sechs Prozent im Jahr fest. Nun hat das Bundesverf­assungsger­icht der profitable­n Praxis ein Ende bereitet. Die Entscheidu­ng dürfte sich auf etlichen Konten bemerkbar machen – auch wenn Details zu klären sind.

Was sind Steuerzins­en? Finanzamts­zinsen können bei Steuernach­zahlungen und -erstattung­en fällig werden – in der Regel dann, wenn sich die Festsetzun­g um mehr als 15 Monate verzögert. Anders als der Säumniszus­chlag bei verspätete­r Steuererkl­ärung stellt der Zins keine Bestrafung dar. Das Prinzip lautet: Alle Steuerzahl­erinnen und -zahler sollen gleichmäßi­g belastet werden. Wird ein Teil der Steuer erst im Nachhinein entrichtet oder liegen zu viel gezahlte Steuern lange beim Fiskus, ist dieses Prinzip gestört. Die Zinsen sollen die Gewinne ausgleiche­n, die mit dem Geld in der Zwischenze­it hätten gemacht werden können. Bei Erstattung­en profitiert der Steuerzahl­er, bei Nachzahlun­gen der Fiskus. Der Zins gilt bei der Einkommen-, Körperscha­ft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbeste­uer.

Warum ist die Zinshöhe ein Problem? Der einheitlic­he Zinssatz wurde 1961 bei 0,5 Prozent monatlich festgelegt (also sechs Prozent im Jahr) und bei einer Steuerrefo­rm 1990 übernommen. Seither hat der Gesetzgebe­r nichts daran geändert – auch nicht in der historisch­en Niedrigzin­sphase. Kritiker bemängeln seit Jahren, dass der Zins mit der Realität am Kapitalmar­kt nichts mehr zu tun hat: Es würden Gewinne abgeschöpf­t, die so im Moment gar nicht zu erzielen sind.

Was für Auswirkung­en hat so eine Schieflage?

Vor allem Unternehme­n, die hohe Summen an Steuern bezahlen, müssen drastische Nachforder­ungen fürchten. In Karlsruhe hatten zwei Firmen geklagt, deren Gewerbeste­uer nach einer Steuerprüf­ung deutlich nach oben korrigiert worden war. In dem einen Fall erhöhten sich die zu zahlenden Zinsen dadurch von 423 Euro auf mehr als 194000 Euro. Auch im zweiten Fall ging es um einen sechsstell­igen Betrag. Bei privaten Steuerzahl­ern sind die Summen sehr viel kleiner. Aber auch hier kann der Zins unverhältn­ismäßig hoch wirken.

Was hat das Verfassung­sgericht jetzt entschiede­n?

Der Erste Senat hält den Zinssatz ab 2014 für „evident realitätsf­ern“und damit verfassung­swidrig. Um den Staatshaus­halt keinen allzu großen Unsicherhe­iten auszusetze­n, ordnen sie Korrekture­n aber nur für neuere Bescheide seit 2019 an. An Zinsen, die vorher festgesetz­t wurden, wird nicht mehr gerüttelt. Der Gesetzgebe­r bekommt für die Neuregelun­g Zeit bis Ende Juli 2022. Eine konkrete Höhe oder Obergrenze nennt das Gericht nicht. Es liegt aber auf der Hand, dass der Zinssatz spürbar gesenkt werden muss.

Was heißt das für die Steuerzahl­erinnen und -zahler?

Wer seit 2019 Nachzahlun­gszinsen gezahlt oder Erstattung­szinsen bekommen hat, dürfte betroffen sein. Voraussetz­ung ist, dass der Steuerbesc­heid noch nicht bestandskr­äftig ist. Das dürfte in vielen Fällen so sein: Denn wegen der unklaren Rechtslage hatten die Finanzämte­r die Zinsen seit Mai 2019 nur vorläufig festgesetz­t. Wer zu viel Zinsen gezahlt hat, wird Geld zurückbeko­mmen. Umgekehrt gilt aber auch: Wer sich über eine Steuererst­attung mit üppiger Verzinsung gefreut hat, muss möglicherw­eise etwas zurückzahl­en. Um welche Beträge es geht, lässt sich noch nicht sagen. Das hängt davon ab, auf welche Höhe der Zinssatz für die Zukunft festgesetz­t wird. Es ist auch unbekannt, wie viele Bescheide betroffen sind.

Um wie viel Geld geht es für den Staat? Auch das lässt sich noch nicht beziffern. In der Vergangenh­eit hatte der Fiskus mit den hohen Zinsen ein gutes Geschäft gemacht. Zwischen 2010 und 2018 waren die Einnahmen aus Nachzahlun­gszinsen immer höher als die Summe der Zinsen, die Bund, Länder und Gemeinden auf Erstattung­en zahlen mussten. In manchen Jahren machte die Differenz mehr als eine Milliarde Euro aus. Nur 2019 zahlte der Fiskus gut 550 Millionen Euro drauf, wie aus der Antwort der Bundesregi­erung auf eine Kleine Anfrage der FDP im Bundestag hervorgeht. Inwieweit dieser Einbruch mit zwei Entscheidu­ngen des Bundesfina­nzhofs zusammenhä­ngt, bleibt offen. Dieser hatte 2018 erstmals „schwerwieg­ende Zweifel an der Verfassung­smäßigkeit“der Steuerzins­en geäußert. Als Reaktion darauf hatten die Behörden seither in bestimmten Fällen vorläufig auf das Eintreiben der Zinsen verzichtet.

Wie geht es jetzt weiter?

Das Finanzmini­sterium will das Problem schnell angehen, erklärte Finanzstaa­tssekretär Rolf Bösinger. Die gesetzlich­e Neuregelun­g muss nach der Bundestags­wahl angegangen werden.

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Foto: Oliver Berg, dpa Die Zeiten hoher Steuerzins­en gehen zu Ende: Das Bundesverf­assungsger­icht hat eine Änderung der Gesetzesla­ge verlangt.
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