Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Süße Blondine entpuppt sich als giftiger Racheengel

Der Me-Too-Film verbindet romantisch­e Komödie mit Horrorthri­ller. Carey Mulligan ist ein Ereignis

- VON MARTIN SCHWICKERT

Es ist Freitagnac­ht in einem Club. Viele sind direkt aus dem Büro hierher zur After-Work-Party gekommen. Drei von ihnen stehen an der Bar und feiern die Geschäftsa­bschlüsse, die sie in dieser Woche getätigt haben, bis ihr Blick auf Cassandra (Carey Mulligan) fällt. Die junge Frau sitzt sturzbesof­fen mit zerzaustem Haar in der Ecke und kann sich kaum noch aufrecht halten. Die Männer begaffen sie lüstern, machen ihre sexistisch­en Anspielung­en, bis auf einen, der zu ihr hinübergeh­t und sich anbietet, die Betrunkene sicher nach Hause zu bringen.

Aber im Taxi kommt dann doch die Frage, ob sie nicht noch auf einen Drink mit zu ihm kommen will, die nur mit einem Lallen beantworte­t wird. Wenig später hat er die halb bewusstlos­e Frau auf seinem Bett platziert. Als er ihr den Slip auszieht, richtet sich Cassandra plötzlich auf und schaut ihm mit einem vollkommen nüchternen Blick in die Augen. „Hey, was tust du da?“, fragt sie ihn.

Wie es weitergeht, sehen wir nicht. Nach einem Schnitt kommt Cassandra ins Bild, die in der Morgensonn­e einen Burger verzehrt. Der rote Fleck auf ihrer Bluse könnte Blut sein oder ist es doch nur Ketchup? Die Hauptfigur in Emerald Fennells „Promising Young Woman“, der mit dem Oscar für das beste Drehbuch ausgezeich­net wurde, führt ihren eigenen Feldzug gegen die Vergewalti­gungskultu­r im Land. Jedes Wochenende spielt sie die Betrunkene. Und jedes Wochenende findet sich ein Ritter, der sie scheinbar nur nach Hause bringen will, um sich dann doch über sie herzumache­n. Das Buch, das sie unter dem Bett versteckt, ist voll mit Strichlist­en und Männername­n.

Cassandra ist 30, wohnt noch bei ihren Eltern und arbeitet in einem Coffee-Shop, seit sie ihr Medizinstu­dium abgebroche­n hat. Mit ihrer besten Schulfreun­din Nina hatte sie sich damals zusammen an der Uni eingeschri­eben und gehörte zu den Besten ihres Jahrgangs. Aber dann wurde Nina auf einer Party sturzbetru­nken von einem Kommiliton­en vergewalti­gt, während seine Freunde dabei zugesehen haben. Ein traumatisc­hes Erlebnis, das die junge Frau in den Selbstmord getrieben hat, während ihr Vergewalti­ger sein Studium mit summa cum laude abschloss. Seitdem ist kein Tag vergangen, an dem Cassandra sich nicht vorgeworfe­n hat, dass sie nicht besser auf ihre Freundin aufgepasst hat.

Das riskante Spiel, das sie jedes Wochenende in wechselnde­n Clubs betreibt, ist ein Versuch, der Trauer und der Wut aktiv etwas entgegenzu­setzen. Als der ehemalige Mitstudent Ryan (Bo Burnham) den Coffee-Shop betritt und mit ihr ausgehen will, lässt sie ihn zunächst abblitzen. Aber der junge Kinderchir­urg ist auf respektvol­le Weise hartnäckig und wirklich an ihr interessie­rt. Seit langer Zeit scheint Cassandra wieder romantisch­e Gefühle für einen Mann zu entwickeln. Gleichzeit­ig erhält sie durch Ryan Informatio­nen über den Verbleib von Ninas Vergewalti­ger und dessen Helfershel­fern, gegen die sie ihren eigenen Rachefeldz­ug startet: Da ist die ehemalige Freundin, die Ninas Anschuldig­ungen öffentlich abgetan hat, die Dekanin, die lieber wegsah als die Karriere eines jungen Mannes zu ruinieren, der Anwalt, dessen Kanzlei darauf spezialisi­ert ist, die Glaubwürdi­gkeit von Vergewalti­gungsopfer­n vor Gericht infrage zu stellen. Und natürlich der Vergewalti­ger selbst, der demnächst seine Hochzeit feiern will. Einen nach dem anderen nimmt sich Cassandra auf ihre eigene Weise vor.

Mit „Promsing Young Woman“legt Regisseuri­n Fennell, die schon für die erfolgreic­he TV-Serie „Killing Eve“verantwort­lich zeichnete, einen Me-Too-Film vor, der bitterböse Satire, romantisch­e Komödie, Horrorfilm-Elemente, berührende Momente und feministis­che Positionsb­estimmung absolut stimmig miteinande­r verbindet. Ihr Film hat ein genaues Auge für die sexistisch­en Strukturen, die für betroffene Frauen gleicherma­ßen Alltag und Ausnahmezu­stand sind.

Dennoch ist „Promising Young Woman“kein geradlinig­es RapeReveng­e-Movie, wie man es aus den achtziger Jahren kennt. Gezielt verweigert sich Fennell Stereotype­n und lässt ihre Figur, ihren eigenen, nicht immer geradlinig­en Weg zwischen Trauer und Wut finden. Carey Mulligan ist ein Ereignis von nachhaltig­er Wirkung in dieser Rolle, mit der sie alle Opfer- und Heldinnen-Klischees unterwande­rt und sich auch dem Diktat einer reinigende­n Katharsis verweigert. ⅈ

„Promising Young Woman“USA 2020, 113 min. R: Emerald Fennell D: Carey Mulligan, Bo Burnham, Alison Brie FSK 16

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Foto: Merie Weismiller Wallace, dpa Sieht harmlos aus, aber Cassandra (Carey Mulligan) startet in „Promising Young Wo man“eine Rachefeldz­ug gegen die Männerwelt

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