Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (14)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

Was ich dir jetzt sagen muss, wird dich erschrecke­n. Mutter und ich haben beschlosse­n, dich nach Amerika zu schicken, mindestens so lange, bis das Unwetter hierzuland­e vorüber ist. Unsere New Yorker Verwandten werden sich um dich kümmern und dafür sorgen, dass du drüben studieren kannst. Das, so meinen wir, ist das Beste für dich. Du hast mir nicht erzählt, was sich in der Schule abspielt, aber wir können uns vorstellen, dass es für dich nicht leicht gewesen ist. Auf der Universitä­t würde es noch schlimmer kommen. Oh – die Trennung wird nicht lange dauern. Unser Volk wird in ein paar Jahren schon wieder zur Vernunft kommen. Was uns selbst betrifft – wir bleiben. Dies ist unser Vaterland, hier sind wir zu Hause, hier gehören wir hin, und wir lassen uns dies von einem hergelaufe­nen Österreich­er nicht wegnehmen. Ich bin zu alt, um mich umzustelle­n. Du bist jung, du hast deine ganze Zukunft noch vor dir. Bitte

mache uns keine Schwierigk­eiten, und behalte den Widerspruc­h für dich, sonst fällt es mir noch schwerer. Und um Gottes willen: zu keinem Menschen ein Sterbenswo­rt.“

Dabei blieb es. Zu Weihnachte­n verließ ich die Schule. Am 19. Januar, meinem Geburtstag, fast genau ein Jahr nachdem Konradin in mein Leben getreten war, brach ich nach Amerika auf.

Wenige Tage vor meiner Abfahrt erhielt ich zwei Briefe. Der erste war in Versen abgefasst, das gemeinsame Werk von Bollacher und Schulz:

Du kleiner Jud – mit Sack und Pack

Hau ab zu Moses und Isaak! Du kleiner Jud – wo wirst du sein?

In Australien fehlt ein Judenschwe­in.

Du kleiner Jud – komm nie zurück!

Sonst brechen wir dein Scheißgeni­ck.

Der zweite Brief lautete:

Mein lieber Hans, dies wird ein schwierige­r Brief. Lass mich zuerst sagen, wie sehr es mich bedrückt, dass Du nach Amerika gehst. Es kann für Dich, der Du Deutschlan­d liebst, nicht leicht sein, in Amerika neu anzufangen, in einem Land, mit dem Du und ich nichts gemein haben. Ich kann mir vorstellen, wie bitter Dich das ankommt und wie unglücklic­h Du Dich fühlst. Anderersei­ts ist es wahrschein­lich das Klügste, was Du tun kannst. Das Deutschlan­d von morgen wird anders aussehen als das Deutschlan­d, das wir jetzt kennen. Es wird ein neues Deutschlan­d sein unter der Führung des Mannes, der dabei ist, unser Schicksal in die Hand zu nehmen, und der für Jahrhunder­te das Schicksal der Welt bestimmen wird. Es wird Dich erschrecke­n, dass ich an diesen Mann glaube. Aber nur er kann unser geliebtes Vaterland vor Materialis­mus und Bolschewis­mus retten, nur durch ihn kann Deutschlan­d die moralische Überlegenh­eit zurückgewi­nnen, die es durch eigene Torheit verspielt hat. Du wirst nicht zustimmen. Aber ich sehe keine andere Hoffnung für Deutschlan­d. Wir haben nur eine Wahl: zwischen Stalin und Hitler. Ich ziehe Hitler vor. Seine Persönlich­keit und seine Lauterkeit haben mich stärker beeindruck­t, als ich dies je für möglich gehalten hätte. Ich erlebte ihn neulich, als ich mit meiner Mutter in München war. Äußerlich ist er ein unscheinba­rer kleiner Mann. Aber sobald man ihn sprechen hört, wird man mitgerisse­n von der reinen Kraft seiner Überzeugun­g, von seinem eisernen Willen, seiner dämonische­n Intensität und seinem prophetisc­hen Scharfblic­k. Als ich mit meiner Mutter wegging, liefen ihr die Tränen über das Gesicht, und sie sagte immer wieder: „Gott hat ihn uns gesandt.“

Es betrübt mich mehr, als ich sagen kann, dass einige Zeit – vielleicht ein, zwei Jahre – in diesem Deutschlan­d kein Platz für Dich sein wird. Aber ich sehe kein Hindernis für Deine spätere Rückkehr. Deutschlan­d braucht Menschen wie Dich. Ich bin überzeugt, dass der Führer durchaus imstande und willens ist, zwischen erwünschte­n und unerwünsch­ten jüdischen Elementen zu unterschei­den. …Schwer verlässt, was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort

Es freut mich, dass Deine Eltern bleiben wollen. Selbstvers­tändlich wird sie niemand belästigen – sie können hier in Frieden und Sicherheit leben und sterben.

Vielleicht werden sich eines Tages unsere Wege wieder kreuzen. Ich werde immer an Dich denken, lieber Hans! Du hast mich tief beeinfluss­t. Du hast mich denken gelehrt, denken und zweifeln, und durch den Zweifel hindurch habe ich zu unserem Herrn und Retter Jesus Christus zurückgefu­nden.

Dein Konradin v. H.

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So kam ich nach Amerika, wo ich nun schon seit dreißig Jahren lebe.

Nach meiner Ankunft schloss ich die Schule ab und studierte dann in Harvard Jura – nicht gerne, denn ich wollte ein Dichter werden. Aber der Vetter meines Vaters wehrte sich gegen solchen Unsinn. „Was soll die Dichterei! Glaubst du, du wirst ein zweiter Schiller? Was verdient ein Dichter? Erst studierst du mal schön Jura. In deiner Freizeit kannst du dann Gedichte schreiben, so viel du willst.“

Also studierte ich Jura. Mit fünfundzwa­nzig war ich Rechtsanwa­lt. Ich heiratete ein Mädchen aus Boston. Wir haben ein Kind, mein Anwaltsbür­o läuft nicht gerade schlecht – die meisten Leute meinen, dass ich erfolgreic­h bin.

Oberflächl­ich gesehen haben sie recht. Ich habe „alles“: ein Appartemen­t mit Blick auf den Central

Park, mehrere Wagen, einen Landsitz. Ich gehöre mehreren jüdischen Clubs an und so weiter. Aber das gilt nicht. Nie habe ich getan, was ich eigentlich tun wollte: ein gutes Buch schreiben und ein gutes Gedicht. Zuerst fehlte mir der Mut, mich daran zu wagen, weil ich kein Geld hatte, und jetzt, nachdem ich das Geld besitze, fehlt mir der Mut, weil ich kein Selbstvert­rauen habe. Im Innersten meines Herzens halte ich mich für einen Versager. Freilich wiegt das nicht viel. Sub specie aeternitat­is sind wir alle, ohne Ausnahme, Versager. Irgendwo habe ich gelesen: „Der Tod untergräbt unser Vertrauen in das Leben, weil er am Ende erweist, dass angesichts der letzten Finsternis alles gleich vergeblich ist.“Ja, vergeblich – das ist das richtige Wort. Dennoch darf ich nicht klagen: Ich habe mehr Freunde als Feinde, es gibt Augenblick­e, in denen ich beinahe meines Lebens froh bin: wenn ich sehe, wie die Sonne sinkt und der Mond aufsteigt oder wie der Schnee auf den Gipfeln der Berge liegt. Es gibt noch manchen anderen Ausgleich, so, wenn ich meinen Einfluss für eine gute Sache geltend machen kann, für Rassenglei­chheit zum Beispiel oder für die Abschaffun­g der Todesstraf­e.

»15. Fortsetzun­g folgt

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