Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Jetzt geraten die Geheimdien­ste ins Visier

Gab es zu wenige Informatio­nen oder wollte die Politik sie nicht hören?

- VON ULI BACHMEIER, CHRISTIAN GRIMM UND STEFAN LANGE

Berlin/München Die Maximalfor­derung bei der Aufarbeitu­ng des Afghanista­n-Desasters erhob Gregor Gysi. Die gesamte Regierung müsse zurücktret­en, erklärte der LinkenPoli­tiker. Sein Parteifreu­nd André Hahn wies das prompt zurück. Die Regierung wäre nach einem Rücktritt erst mal weiter geschäftsf­ührend im Amt, es würde sich also an der momentanen Lage nichts ändern. Das Geplänkel zwischen den Linken-Abgeordnet­en zeigt, wie die Lage in Berlin wenige Tage nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul ist: Es herrscht ein heilloses Durcheinan­der. Inmitten des politische­n Chaos verfestigt­e sich nur eines: die Einschätzu­ng, dass der Bundesnach­richtendie­nst einen Großteil der Verantwort­ung trägt.

Das Parlamenta­rische Kontrollgr­emium (PKGr) trat am Donnerstag in Berlin zusammen, um die Rolle des Auslandsge­heimdienst­es genau zu beleuchten. Die neunköpfig­e Runde überwacht die drei deutschen Geheimdien­ste – den BND sowie den Militärisc­hen Abschirmdi­enst (MAD) und das Bundesamt für Verfassung­sschutz (BfV) – und tagt geheim. Nach Informatio­nen unserer Redaktion bestätigte sich, dass der BND die Lage in Kabul falsch eingeschät­zt hatte. Eine Agentin erklärte demnach noch am vergangene­n Freitag, vor dem 11. September sei eine feindliche Übernahme Kabuls durch die Taliban eher unwahrsche­inlich. Die Taliban, so der BND weiter, hätten kein Interesse an einem Kampf mit den US-Kräften. Sie könnten die afghanisch­e Hauptstadt schließlic­h in wenigen Wochen übernehmen, ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Ein fatale Fehleinsch­ätzung.

Begünstigt wurde das überrasche­nd schnelle Vorrücken der radikalisl­amistische­n Kämpfer den Informatio­nen zufolge durch die USAmerikan­er, die vom 14. auf den 15.

August ihre Botschaft räumten. In deutschen Sicherheit­skreisen wird zur Verteidigu­ng des BND darauf hingewiese­n, dass andere Geheimdien­ste zu ähnlichen Einschätzu­ngen gekommen seien wie der BND. „Dass Kabul so schnell fallen würde, hatte keiner auf dem Schirm. Das war nicht nur beim BND so, sondern auch bei den Geheimdien­sten anderer Länder“, sagte FDPFraktio­nsvize Stephan Thomae. Aus den USA war indes zu hören, dass die dortigen Geheimdien­ste bereits im Juli vor einem raschen Zusammenbr­uch des afghanisch­en Militärs und einem wachsenden Risiko für Kabul gewarnt haben – dies im Weißen Haus aber nicht gehört wurde.

Ähnliche Vorwürfe gibt es auch für Deutschlan­d. Der Vize-Vorsitzend­e des PKGr, Konstantin von Notz (Grüne), sagte: „Mein Eindruck war, dass die Dienste geliefert haben und wir ein Problem haben bei der Bewertung und der Gesamtbild­erstellung aufseiten der Bundesregi­erung.“Die Bundesregi­erung habe offenbar Probleme gehabt, die verschiede­nen Informatio­nen rechtzeiti­g zusammenzu­führen.

Eine Kritik, die auch CSU-Chef Markus Söder äußerte. Insgesamt gebe die Bundesregi­erung „kein starkes Bild in dieser Situation ab“, sagte der bayerische Ministerpr­äsident. Söder warnte davor, den Streit über Versäumnis­se zum Wahlkampft­hema zu machen. Er beobachte bereits jetzt, dass es zwischen Ministerie­n und Geheimdien­storganisa­tionen Versuche gegenseiti­ger Schuldzuwe­isungen gebe. Auch von Rücktritts­forderunge­n halte er nichts. Es sei ohnehin davon auszugehen, dass ein Großteil der verantwort­lichen Personen nach der Wahl nicht mehr im Amt sei. Mit Blick auf Heiko Maas (SPD) fügte er hinzu, das gelte „insbesonde­re, was den Außenminis­ter betrifft“. Um die Vorgänge aufzukläre­n, sprach Söder sich dafür aus, nach der Bundestags­wahl eine Enquete-Kommission einzusetze­n. »Kommentar und Politik

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