Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Jetzt geraten die Geheimdienste ins Visier
Gab es zu wenige Informationen oder wollte die Politik sie nicht hören?
Berlin/München Die Maximalforderung bei der Aufarbeitung des Afghanistan-Desasters erhob Gregor Gysi. Die gesamte Regierung müsse zurücktreten, erklärte der LinkenPolitiker. Sein Parteifreund André Hahn wies das prompt zurück. Die Regierung wäre nach einem Rücktritt erst mal weiter geschäftsführend im Amt, es würde sich also an der momentanen Lage nichts ändern. Das Geplänkel zwischen den Linken-Abgeordneten zeigt, wie die Lage in Berlin wenige Tage nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul ist: Es herrscht ein heilloses Durcheinander. Inmitten des politischen Chaos verfestigte sich nur eines: die Einschätzung, dass der Bundesnachrichtendienst einen Großteil der Verantwortung trägt.
Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) trat am Donnerstag in Berlin zusammen, um die Rolle des Auslandsgeheimdienstes genau zu beleuchten. Die neunköpfige Runde überwacht die drei deutschen Geheimdienste – den BND sowie den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) – und tagt geheim. Nach Informationen unserer Redaktion bestätigte sich, dass der BND die Lage in Kabul falsch eingeschätzt hatte. Eine Agentin erklärte demnach noch am vergangenen Freitag, vor dem 11. September sei eine feindliche Übernahme Kabuls durch die Taliban eher unwahrscheinlich. Die Taliban, so der BND weiter, hätten kein Interesse an einem Kampf mit den US-Kräften. Sie könnten die afghanische Hauptstadt schließlich in wenigen Wochen übernehmen, ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Ein fatale Fehleinschätzung.
Begünstigt wurde das überraschend schnelle Vorrücken der radikalislamistischen Kämpfer den Informationen zufolge durch die USAmerikaner, die vom 14. auf den 15.
August ihre Botschaft räumten. In deutschen Sicherheitskreisen wird zur Verteidigung des BND darauf hingewiesen, dass andere Geheimdienste zu ähnlichen Einschätzungen gekommen seien wie der BND. „Dass Kabul so schnell fallen würde, hatte keiner auf dem Schirm. Das war nicht nur beim BND so, sondern auch bei den Geheimdiensten anderer Länder“, sagte FDPFraktionsvize Stephan Thomae. Aus den USA war indes zu hören, dass die dortigen Geheimdienste bereits im Juli vor einem raschen Zusammenbruch des afghanischen Militärs und einem wachsenden Risiko für Kabul gewarnt haben – dies im Weißen Haus aber nicht gehört wurde.
Ähnliche Vorwürfe gibt es auch für Deutschland. Der Vize-Vorsitzende des PKGr, Konstantin von Notz (Grüne), sagte: „Mein Eindruck war, dass die Dienste geliefert haben und wir ein Problem haben bei der Bewertung und der Gesamtbilderstellung aufseiten der Bundesregierung.“Die Bundesregierung habe offenbar Probleme gehabt, die verschiedenen Informationen rechtzeitig zusammenzuführen.
Eine Kritik, die auch CSU-Chef Markus Söder äußerte. Insgesamt gebe die Bundesregierung „kein starkes Bild in dieser Situation ab“, sagte der bayerische Ministerpräsident. Söder warnte davor, den Streit über Versäumnisse zum Wahlkampfthema zu machen. Er beobachte bereits jetzt, dass es zwischen Ministerien und Geheimdienstorganisationen Versuche gegenseitiger Schuldzuweisungen gebe. Auch von Rücktrittsforderungen halte er nichts. Es sei ohnehin davon auszugehen, dass ein Großteil der verantwortlichen Personen nach der Wahl nicht mehr im Amt sei. Mit Blick auf Heiko Maas (SPD) fügte er hinzu, das gelte „insbesondere, was den Außenminister betrifft“. Um die Vorgänge aufzuklären, sprach Söder sich dafür aus, nach der Bundestagswahl eine Enquete-Kommission einzusetzen. »Kommentar und Politik