Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Zschäpe scheitert mit Revision
Bundesgerichtshof bestätigt lebenslang für NSU-Mittäterin
Karlsruhe Es sind 31 Seiten, die den Angehörigen der Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“(NSU) wohl viel Last, Angst und Sorge von den Schultern nehmen. 31 Seiten, auf denen der Bundesgerichtshof feststellt: Die NeonaziTerroristin Beate Zschäpe ist zu Recht als Mittäterin an allen Verbrechen des NSU – und damit als Mörderin – zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Auch wenn das Verfahren gegen einen von vier Mitangeklagten noch nicht abgeschlossen ist, so endet mit dem BGH-Spruch ein zentrales Kapitel der Aufarbeitung der rassistisch motivierten Mordserie, die die Republik erschüttert hatte. Doch erste Reaktionen zeigen: Es ist nur ein erster juristischer Schlussstrich. Es sei Zeit, dass das Verfahren gegen Zschäpe endlich zu Ende gehe, lässt Gamze Kubasik, Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik, über ihren Anwalt mitteilen. „Diese Entscheidungen sind aber, wie das Urteil in München, kein Schlussstrich unter das Thema NSU. Sie dürfen es nicht sein!“
Die Verbrechen, für die Zschäpe verurteilt wurde, liegen Jahre zurück: Von 1998 bis 2011 lebte sie mit ihren Freunden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund. Zwischen September 2000 und April 2007 ermordeten die Uwes neun türkischund griechischstämmige Kleinunternehmer und eine Polizistin – ohne dass ihnen die Ermittler je auf die Spur gekommen wären. Sie verübten zwei Bombenanschläge, überfielen Banken, Postfilialen und Supermärkte. Erst im November 2011 flog das Trio auf: Nach einem missglückten Überfall erschossen sich Mundlos und Böhnhardt, um der Festnahme zu entgehen. Zschäpe zündete die letzte gemeinsame Wohnung an, verschickte ein über Jahre zusammengestelltes Bekennervideo und stellte sich.
Im Prozess in München war dies über gut fünf Jahre hinweg die entscheidendste Frage: Ist Beate Zschäpe eine Mittäterin im Sinne des Strafgesetzbuchs? Kann sie als Mörderin bestraft werden, auch wenn es keinen Beweis gibt, dass sie jemals an einem Tatort war, geschweige denn selbst geschossen hat? Das Oberlandesgericht antwortete am 11. Juli 2018 mit einem klaren Urteil: Zschäpe ist schuldig des Mordes in zehn Fallen. Das bedeutet lebenslange Haft. Dieses Urteil hat jetzt Bestand. „Auf der Grundlage der vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen führt eine Gesamtbetrachtung zu dem Ergebnis, dass die Angeklagte mittäterschaftlich handelte“, heißt es in der BGH-Entscheidung. Gamze Kubasik hofft nun, dass „alle Täter und Helfer“ermittelt werden, sie fordert Zschäpe auf, alle weiteren Namen zu nennen. Denn: „Sie hat nun nichts mehr zu verlieren.“
Herr Bütikofer, kein anderes westliches Industrieland hat vom Aufstieg Chinas so profitiert wie Deutschland. Welche Bilanz ziehen Sie nach 16 Jahren Angela Merkel als Kanzlerin?
Reinhard Bütikofer: Diese 16 Jahre China-Politik kann man nicht über einen Leisten schlagen. Heute ist es kaum noch erinnerlich, aber zu Beginn ihrer Kanzlerschaft hat sich Angela Merkel getraut, den Dalai Lama zu empfangen, obwohl sie wusste, dass das in Peking auf allerhöchstes Missfallen stoßen würde. Vor einigen Jahren noch kam eine Gruppe europäischer China-Thinktanks in einer Studie zu dem Ergebnis, Frau Merkel gehöre zu den wenigen Führungspersönlichkeiten Europas, die auch öffentlich über Menschenrechte in China redeten. Sie hat es geschafft, dass die Witwe des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, Liu Xia, nach jahrelangem Hausarrest nach Deutschland ausreisen durfte. Und doch steht heute Merkels China-Politik ganz eigentümlich veraltet in der Landschaft.
Inwiefern?
Bütikofer: Sie hat sich zuletzt besonders profiliert als verlässliche Partnerin von Xi Jinping, als eine Politikerin, die bereit ist, zugunsten intensiver Kooperation mit dem XiRegime nicht nur Menschenrechtsbelange wieder kleiner zu schreiben, sondern auch deutsche Alleingänge zu machen, die Europas Positionen gegenüber China nur schwächen können. Die enge wirtschaftliche Verflechtung, die Spötter dazu brachte zu sagen, Deutschland habe gegenüber China gar keine Außenpolitik, sondern nur eine Automobil-Außenpolitik, erklärt das nicht allein. Wenn man mal von Großkonzernen wie VW absieht, hat sich die deutsche Wirtschaft deutlich kritischer gegenüber China gezeigt als das Bundeskanzleramt. Mir scheint, dass bei Merkel eine erhebliche Portion Defätismus im Spiel ist. So als ob die Kanzlerin überzeugt wäre, dass Chinas Propaganda vom unaufhaltsamen Aufstieg zutreffe und man letztlich nur die Wahl habe, sich heute zu arrangieren oder morgen unter weniger günstigen Bedingungen. Ich halte das für eine falsche und gefährliche Haltung, die uns in eine Position der Hilflosigkeit gegenüber einem immer arroganteren Regime zu führen droht.
Merkel wird doch ein gutes Gespür für Wandel in der Weltpolitik nachgesagt. Bütikofer: Die Machtübernahme durch Xi Jinping 2013 ist gleichzusetzen mit einem grundlegenden Rollback in China und mit einer ebenso dramatischen Wende zu offener Großmacht-Anmaßung in den Außenbeziehungen. Zu Beginn seiner Amtszeit hatten Beobachter gehofft, Xi könnte sich als Reformer herausstellen. Das war eine Illusion. Die Menschenrechtsanwälte, die vor zehn Jahren ihre Mandanten vor Gericht mutig verteidigen konnten, sitzen heute selbst in Haft. Die Politik gegenüber den nationalen Minderheiten hat Xi brutal verschärft. In Xinjiang herrscht heute der schlimmste Polizeistaat, allenfalls noch vergleichbar mit Nordkorea. Die Kommunistische Partei drängt sich wieder in jede Ritze im Alltag der Menschen und gängelt die Wirtschaft immer mehr. Xi hat seine gegen Korruption genutzt, um alle Macht in einer Art Partei-Kaisertum zu konzentrieren – etwas, das seit der Zeit von Deng Xiaoping als unbedingt zu vermeidender Irrweg gegolten hatte. Frau Merkels China-Politik folgte über viele Jahre dem Grundgedanken, man müsse mit Geduld und Leidenschaft dicke Bretter bohren. Aber das Xi-Regime hat die dicken Bretter durch Stahlplatten ersetzt. Mit dem Holzbohrer richtet Merkel da nicht mehr viel aus.
Welche Schlussfolgerungen zieht man daraus?
Bütikofer: Die Idee des generellen Entkoppelns, die Präsident Trump propagierte, habe ich nie für eine intelligente Perspektive gehalten. Das steht unserem europäischen Grundgedanken der multilateralen Kooperation diametral entgegen. Wir wollen keine Mauern bauen. Aber man muss dabei doch zur Kenntnis nehmen, das China mit dem Entkoppeln längst angefangen hat. Nach wie vor ist es so, dass europäische Unternehmen an den chinesischen Beschaffungsmärkten keine Schnitte machen, während unsere Beschaffungsmärkte für chinesische Staatsunternehmen sperrangelweit offen stehen. China setzt auf immer mehr Autarkie, betreibt Abkopplung in der Bildung, im Mediensektor, in der IT-Branche, im Bereich der Seltenen Erden. Entkoppeln war eine Ideologie von Trump, ist aber eine Realität von Xi.
Also doch entkoppeln?
Bütikofer: In einer Situation, in der ein Partner bereit ist, ökonomische Verflechtungen zu einer politischen Waffe zu machen, kann man nicht naiv sagen: Unsere Offenheit kennt keine Grenze. Ein Beispiel bietet der Ausbau des 5G-Netzwerks, das ja das Nervensystem unserer künftigen Kommunikation gerade auch im industriellen Bereich sein wird. Ich möchte nicht, dass eine chinesische Firma Teil des Infrastrukturausbaus wird, die nach geltendem chinesischen Gesetz den dortigen Sicherheitsbehörden bedingungslos zu Willen sein muss. Es ist keine Entkopplungsphilosophie, sondern schlicht praktische Vernunft, sich gegenüber einem Wettbewerber, der nicht fair spielt, nicht völlig in die Abhängigkeit zu begeben.
Wie wollen Sie das einem Konzern wie VW erklären, der inzwischen die Hälfte seines Umsatzes in China macht?
Bütikofer: Es ist klar, dass ein Großkonzern nicht auf dem Absatz umkehren und sagen kann, ab sofort sei der chinesische Markt uninteressant. Ich glaube aber schon, dass auch die Strategen in den Konzernzentralen erkannt haben, dass Chinas Wirtschaftsstrategie mittel- und langfristig eben nicht auf Partnerschaft mit dem Westen setzt. Das fing schon an mit der Strategie „Made in China 2025“vor sechs Jahren. Das wird jetzt im 14. Fünfjahresplan fortgesetzt mit der sogeKampagne nannten doppelten Zirkulation. Für internationale Partner ist nur ein Platz vorgesehen, wenn sie sich der ökonomischen und politischen Logik Chinas unterwerfen. Statt weiter in eine Sackgasse zu laufen, sollten wir neue Wege suchen. Einfach wird das nicht.
Die USA verfolgen in ihrer Rivalität mit China ihre eigenen Interessen, fordern Deutschland und Europa aber auf, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie künftig stehen.
Bütikofer: US-Außenminister Anthony Blinken hat mehrfach gesagt, dass er das von den Partnern der USA nicht verlangt. Es wäre allerdings unselig, wollten wir so tun, als wäre dieser Systemkonflikt gar nicht unserer, sondern bloß einer zwischen den USA und China. Die Systemrivalität bezieht sich auf Grundwerte wie Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Multilateralismus. In der Hinsicht ist die EU nicht ein Neutrum, sondern ganz klar Partner von Ländern wie USA, Australien, Kanada, Japan, Indien und anderen. Bei aller Offenheit für Kooperation muss auch klar sein: Wir machen keine Deals, bei denen wir etwa Klimaschutz gegen unser Engagement für Menschenrechte eintauschen.
Keine Deals? Die internationale Gemeinschaft hat Taiwan schon vor einer Weile geopfert und sämtliche diplomatische Verbindungen gekappt, weil China das so wollte. Müsste sich eine