Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Fred Uhlman: Der wiedergefundene Freund (14)
Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundschaft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich
Auch mein finanzieller Erfolg hat mir schon Freude gemacht, weil er es mir ermöglichte, den Juden beim Aufbau Israels zu helfen und den Arabern bei der Ansiedlung ihrer Flüchtlinge. Sogar nach Deutschland habe ich Geld geschickt. Meine Eltern sind tot, und sie sind, zu meinem Trost, nicht in Belsen oder Auschwitz umgekommen. Eines Tages stand ein SAMann vor der Praxis meines Vaters mit einem Schild: „Achtung Deutsche! Meidet die Juden! Wer sich mit Juden einlässt, besudelt sich.“Mein Vater zog seine Offiziersuniform an, mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse, und stellte sich neben den Posten. Die Verlegenheit des SA-Mannes wuchs, als die Leute stehen blieben und allmählich ein Auflauf entstand. Zuerst hielt die Menge still, aber mit ihrem Anwachsen wurde zuerst gemurrt, dann laut und aggressiv protestiert. Die Feindseligkeit galt dem SAMann, der es nicht mehr lange aushielt, sein Plakat nahm und abzog.
Bald darauf drehte mein Vater den Gashahn auf, während meine Mutter schlief. So starben sie gemeinsam. Seitdem habe ich nach Möglichkeit vermieden, mit Deutschen zusammenzutreffen, und habe kein einziges deutsches Buch mehr aufgeschlagen, nicht einmal Hölderlin. Ich habe versucht, alles zu vergessen. Ein paar Deutsche sind mir natürlich trotzdem begegnet, anständige Leute, die im Gefängnis saßen, weil sie sich gegen Hitler auflehnten. Ich habe mich über ihre Vergangenheit unterrichtet, bevor ich ihnen die Hand gab. Man muss da schon vorsichtig sein – es ist nicht auszuschließen, dass man sich mit jemandem einlässt, an dessen Händen das Blut von Freunden und Verwandten klebt. Gerade jene freilich, bei denen es nicht den geringsten Zweifel gab, deren Widerstand bezeugt war, wurden ihr Schuldbewusstsein nicht los. Sie hatten mein Mitgefühl. Aber selbst bei ihnen gab ich vor, dass es mich anstrenge, deutsch zu sprechen.
Dies ist die Fassade, hinter die ich mich beinahe (doch nicht ganz) unbewusst zurückziehe, wenn ich mit einem Deutschen zu tun habe. Selbstverständlich spreche ich noch immer fließend Deutsch, wenn auch mit leicht amerikanischem Akzent, aber ich mache nicht gerne Gebrauch davon. Meine Wunden sind nicht verheilt, und die Erinnerung an Deutschland reibt Salz in sie hinein. Eines Tages traf ich einen Mann aus Württemberg. Ich fragte ihn, was mit Stuttgart sei.
„Mehr als zur Hälfte zerstört.“„Und das alte Gymnasium?“„Ein Schutthaufen.“
„Und das Palais Hohenfels?“„Ebenfalls ein Schutthaufen.“
Ich lachte und lachte.
„Was gibt es da zu lachen?“, fragte er befremdet.
„Lassen wir’s“, sagte ich.
„Aber das ist kein Spaß. Ich begreife nicht, was daran lustig sein soll.“
„Lassen wir’s“, wiederholte ich. „Es ist nichts Lustiges.“
Was hätte ich ihm sonst sagen sollen? Wie hätte ich erklären sollen, warum ich lachte, wenn ich es doch selbst nicht begriff.
19
All dies hat mich eingeholt, als aus heiterem Himmel ein Spendenaufruf bei mir eintraf, ein Brief mit einer Namensliste, abgesandt vom Karl-Alexander-Gymnasium, mit der Bitte um einen Beitrag für eine Gedenktafel mit den Namen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Schüler. Ich weiß nicht, wie sie zu meiner Adresse gekommen sind. Mir ist unklar, wie sie herausgefunden haben, dass ich vor tausend Jahren einer der Ihren gewesen bin. Meine erste Regung war, alles in den Papierkorb zu werfen. Was brauchte ich mich um ihren Tod zu kümmern: Ich hatte nichts mit ihnen zu tun, absolut nichts. Dieses Stück von mir hatte es nie gegeben, diese siebzehn Jahre hatte ich aus meinem Leben getilgt, ohne sie um irgendetwas zu bitten. Und nun baten sie mich, mich um eine Spende.
Aber schließlich änderte ich meinen Sinn. Ich las den Aufruf: Vierhundert ehemalige Schüler waren gefallen oder wurden vermisst. Ihre Namen waren in alphabetischer Ordnung aufgelistet. Ich ging die Liste durch, vermied jedoch den Buchstaben H.
Adelbert, Fritz, gefallen in Russland 1942. Ja, einen Jungen dieses Namens hatte es in meiner Klasse gegeben. Aber ich konnte mich nicht mehr an ihn erinnern, er muss lebend so wenig für mich bedeutet haben wie jetzt als Toter. Das Gleiche beim nächsten Namen: Behrens, Karl, vermisst in Russland, vermutlich tot. Und das waren Jungen, die ich jahrelang gekannt hatte, die also lebendig gewesen waren und voller Hoffnung, die gelacht und gelebt hatten wie ich.
Frank, Kurt. Ja, an ihn erinnerte ich mich. Er war einer der drei vom Kaviar-Klub, eigentlich ein netter Kerl. Er tat mir leid. Müller, Hugo, gefallen in Afrika. Auch an ihn erinnerte ich mich. Wenn ich die Augen schloss, brachte mein Gedächtnis das undeutliche, verschwimmende Bild eines blonden Jungen mit Sommersprossen hervor – eine verblasste Daguerreotypie. Das war alles. Er war einfach tot. Armer Junge.
Anders war es mit Bollacher. Gefallen, Grabstätte unbekannt. Wenn – auf das wenn kam es an – jemand verdiente, getötet zu werden, dann er. Er und Schulz. Oh, an die beiden erinnerte ich mich gut. Ich hatte ihr Abschiedsgedicht nicht vergessen. Wie fing es an?
Du kleiner Jud – mit Sack und Pack
Hau ab zu Moses und Isaak!
Ja, sie verdienten den Tod – wenn ihn jemand verdiente.
Ich las die ganze Liste durch - mit Ausnahme der Namen, welche mit H begannen. Am Schluss zählte ich zusammen: 26 der 46 Jungen meiner Klasse waren für das „Tausendjährige Reich“gefallen.
Dann legte ich die Liste vor mich hin - und wartete. Ich wartete zehn Minuten, eine halbe Stunde. Die ganze Zeit blickte ich auf die Drucksache, diese Erscheinung aus dem Totenreich der verschütteten Vergangenheit. Aufgedrängt hatte sie sich, und nun störte sie meinen Seelenfrieden und wühlte auf, was ich aus Herzensgrund hatte vergessen wollen. Ich zwang mich zur Arbeit, führte ein paar Telefongespräche, diktierte einige Briefe. Und immer noch konnte ich mich weder dem Bann entziehen noch mich überwinden, den Namen zu suchen, der mich verfolgte. Zuletzt entschloss ich mich, das schreckliche Ding zu vernichten. Wollte oder musste ich wirklich Bescheid wissen? War es ein Unterschied, ob er tot war oder lebendig, wenn ich ihn weder tot noch lebendig jemals wiedersehen würde? Aber war ich dessen sicher? War es zweifelsfrei ausgeschlossen, dass auf einmal die Tür aufging und er hereintrat? Horchte ich nicht jetzt schon auf seine Schritte?
Ich nahm die kleine Broschüre in die Hand, drauf und dran, sie zu zerreißen, hielt aber im letzten Augenblick inne. Auf alles gefasst, suchte ich zitternd die Seite mit dem Buchstaben H und las: von Hohenfels, Konradin, beteiligt am Attentat auf Hitler. Hingerichtet.
ENDE