Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Plötzlich ist der Horror wieder da

Nach der tödlichen Amokfahrt durch die Trierer Fußgängerz­one hat der Prozess gegen den mutmaßlich­en Täter begonnen. Opfer hoffen auf Antworten. Zunächst werden sie aber enttäuscht

- Birgit Reichert, dpa

Trier Die Wunden reißen wieder auf. Plötzlich ist alles wieder da. Die Amokfahrt in Trier mit fünf Toten und so vielen Verletzten. Als der Oberstaats­anwalt am Donnerstag die Anklage gegen den mutmaßlich­en Täter im Landgerich­t Trier verliest, fängt Wolfgang Hilsemer an zu weinen. Der 63-Jährige hat an dem Tag seine Schwester, 73, verloren. „Wir waren sehr eng“, sagt er.

Hilsemer sitzt als Nebenkläge­r im Gerichtssa­al. Wie gut ein Dutzend anderer Angehörige­r und Opfer der Amokfahrt erhofft er sich Antworten im Prozess – auf das Warum. Doch die Hoffnung wird erst einmal zunichtege­macht. Der angeklagte 51-Jährige will schweigen. „Ich will selbst keine Aussage machen“, sagt er. Und seine Verteidige­rin Martha Schwiering fügt hinzu: „Weder zur Person noch zur Sache.“

Angeklagt ist der Mann wegen fünffachen Mordes und versuchten Mordes in 18 Fällen, wobei 14 Passanten schwer verletzt wurden. Vier Menschen hatten sich noch in letzter Sekunde retten können. Es sei seine Absicht gewesen, möglichst viele Menschen bei der Tat am 1. Dezember 2020 zu töten oder zu verletzen, als er sie gezielt mit hohem Tempo ansteuerte, sagt Oberstaats­anwalt Eric Samel. Er habe die „Arg- und der Passanten ausgenutzt, die sich keiner Gefahr bewusst waren, als sie durch die Fußgängerz­one gingen. Die Tat mit der Waffe Auto sei heimtückis­ch gewesen, sagt Samel.

Es ist mucksmäusc­henstill im Gerichtssa­al, als er schildert, wie der Amokfahrer am Tattag gegen 13.45 Uhr mit dem schweren SUV in die Fußgängerz­one einbog und stark beschleuni­gte. Zunächst steuerte er frontal ein Ehepaar an, die Frau, Schwester von Wolfgang Hilsemer, erlag später ihren Verletzung­en. Dann raste er auf dem Hauptmarkt auf eine Familie zu, die zum Einkaufsbu­mmel unterwegs war. Sie konnte nicht ausweichen, denn er kam von hinten. Das neun Wochen alte Baby wurde aus dem Kinderwage­n geschleude­rt und starb – wie dessen Vater, 45.

Dann hielt er auf eine Frau, 52, auf einem Fahrrad zu – und verletzte sie tödlich. Und schließlic­h erfasste er eine Studentin, 25, von hinten. Sie wurde 50 Meter durch die Luft geschleude­rt und war sofort tot. Mit mehr als 80 Kilometern pro Stunde war der Amokfahrer in der belebten Simeonstra­ße unterwegs, stellte die Polizei später fest. Die Menschen, die den Angriff überlebten, erlitten erhebliche Verletzung­en unterschie­dlicher Schwere. Mehrere Personen waren so schwer verletzt, dass sie bis heute behandelt werden. Zudem gab es rund 300 Traumatisi­erte, die Augenzeuge­n wurden, wie Menschen schrien, flüchteten, halfen oder starben. Trier stand danach tagelang unter Schock.

„Die Familie meines Mandanten will Antworten“, sagt auch Rechtsanwa­lt Andreas Ammer. „Auf das, was der Täter genau gemacht hat.“Ammer vertritt die Nebenklage eines Polizeibea­mten, der bei der Amokfahrt so schwer verletzt wurde, dass er heute ein „Schwerstpf­legefall“sei. Der 62-Jährige hatte ein schweres Schädelhir­ntrauma erlitten. Koma, Intensivst­ation, künstliche Ernährung. „Das ganze Leben dieser Familie ist auf den Kopf gestellt.“

Was das für ein Mensch ist, der so was tun kann – das fragen sich viele, als der Angeklagte mit Handschell­en und Fußfesseln in den Gerichtssa­al geführt wird und hinter Panzerglas Platz nimmt. Was man von ihm weiß: Er ist alleinsteh­end, arbeitslos, ohne festen Wohnsitz und ofWehrlosi­gkeit“ fenbar durch seine persönlich­en Lebensumst­ände frustriert. „Er entwickelt­e einen allgemeine­n Gesellscha­ftshass“, sagt Samel. Vor diesem Hintergrun­d sei er dann auch am Tattag ins Auto gestiegen.

Laut Staatsanwa­ltschaft hat der Deutsche bisher erklärt, „an Einzelheit­en des Tatgescheh­ens keine Erinnerung zu haben“. Nach vorläufige­r Einschätzu­ng eines psychiatri­schen Sachverstä­ndigen leidet er an einer Psychose. Über die Frage der Schuldfähi­gkeit wird das Gericht daher in der Verhandlun­g entscheide­n müssen. „Das ist auf jeden Fall ein außergewöh­nlicher Prozess in seiner Dimension, was Umfang und das Leid angeht, das angerichte­t worden ist. Es ist auf jeden Fall ein Prozess, der erfahrene Ermittler nicht kaltlässt“, sagt Samel. Und fügt hinzu: „Es ist für Trier wichtig zu wissen, was passiert ist und warum es passiert ist.“

Ob der Prozess bis Ende Januar die Motive, die hinter der Tat stehen, klären wird – daran gibt es Zweifel. Da der gelernte Elektroins­tallateur an einer Psychose leidet, könne es gut sein, dass er „in seiner Welt“ein Motiv habe, das aber „in unserer Welt“rational nicht nachzuvoll­ziehen sei, hieß es aus Ermittlerk­reisen.

Ein Polizist ist heute ein „Schwerstpf­legefall“

 ?? Foto: Harald Tittel, dpa ?? Der Angeklagte steht hinter Sicherheit­sglas zwischen Justizbeam­ten. Der 51‰Jährige ist wegen fünffachen Mordes und versuchten Mordes in 18 Fällen angeklagt. Es sei seine Absicht gewesen, möglichst viele Menschen zu töten, sagt die Staatsanwa­ltschaft.
Foto: Harald Tittel, dpa Der Angeklagte steht hinter Sicherheit­sglas zwischen Justizbeam­ten. Der 51‰Jährige ist wegen fünffachen Mordes und versuchten Mordes in 18 Fällen angeklagt. Es sei seine Absicht gewesen, möglichst viele Menschen zu töten, sagt die Staatsanwa­ltschaft.

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