Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Faszinatio­n Fuggerei

- VON NICOLE PRESTLE

Jakob Fugger der Reiche hat seine Sozialsied­lung in Augsburg „auf ewig“angelegt. Jährlich 88 Cent Kaltmiete, täglich drei Gebete für den Stifter – im Grunde gilt heute, was schon vor 500 Jahren galt. Wie das Erbe überlebte und nun in andere Länder „exportiert“werden soll

Augsburg Erhard Smutny hat seinen Auftritt akribisch geplant, er hat Fernsehtea­ms, Journalist­innen und Journalist­en eingeladen und bei den Nachbarn Werbung gemacht. Vor der ockerfarbe­nen Kulisse der Fuggereihä­uschen will er an diesem Nachmittag Augsburgs Bischof Bertram Meier schweben lassen. Ein Zaubertric­k, wie ihn Smutny schon oft aufgeführt hat. Dass der „Schwebling“ein hoher Geistliche­r ist, bringt aber selbst den Profi ins Schwitzen. Der Bischof mag nah dran sein am Himmel, Schweben jedoch will gelernt sein. Am Ende geht alles gut: Der Bischof, naja, hängt in der Luft und Smutny bekommt, was er ein Leben lang so sehr brauchte: Applaus.

Man kennt Smutny, 72, besser unter seinem Künstlerna­men: Zauberer Hardy. Seine besten Zeiten hatte er in den 70ern, als sein Gesicht von tausenden Kinder-Zauberkäst­en lächelte, als er mit Franz Joseph Strauß, Udo Lindenberg und den Magiern Siegfried und Roy auf Du und Du war. Heute reicht ihm seine Rente kaum zum Leben, weshalb er vor vier Jahren in die Augsburger Fuggerei zog. Ein Ort, an dem er zur Ruhe kommt, in Würde leben kann, obwohl er, rein monetär gesehen, arm ist. Zu verdanken haben Smutny und etwa 150 weitere Fuggerei-Bewohnerin­nen und Bewohner das einem Mann, der einst den Grundstein legte für eine Idee, die bis heute Bestand hat: Jakob Fugger, genannt der Reiche.

Vor fast genau 500 Jahren, am 23. August 1521, unterzeich­nete der Augsburger Kaufmann den Stiftungsb­rief für seine Fuggerei, die bis heute als die älteste Sozialsied­lung der Welt gilt. Wer dort leben soll, hatte er dabei klar vor Augen: „etlich arm dürfftig burger und inwoner zu Augspurg (...) so offentlich das almusen nit suchen“. Fugger spricht von „ehrenhafte­n Armen“, was den tausenden Menschen, die seitdem in die Fuggerei ein- und auszogen, gefallen (haben) dürfte: Der Stifter definiert Armut weniger als Makel denn als Notlage, aus der er zumindest einige befreien will.

Wer das verstehen will, muss sich die Umstände von damals vor Augen führen. Der Begriff „Armut“ist Anfang des 16. Jahrhunder­ts einem fundamenta­len Wandel unterworfe­n. Man kommt ab von der christlich geprägten Unterstütz­ung aller Mittellose­n, stattdesse­n wird unterschie­den zwischen „würdigen“und „bösen“Armen. Denen also, die zwar arbeitswil­lig, aus vielen Gründen aber nicht mehr arbeitsfäh­ig sind, und denen, die einfach nicht anpacken wollen.

Jakob Fugger holt mit seiner Sozialstif­tung gleich mehrere hundert dieser „würdigen“armen Augsburger – 1521 ist das über ein Prozent der Bevölkerun­g – von der Straße und gibt ihnen für wenig Geld ein Dach über dem Kopf. Seine Nachkommen verpflicht­et er, dieser Aufgabe ebenfalls nachzukomm­en – und zwar „auf ewig“.

Szenenwech­sel. Es ist ein schwülwarm­er Augustnach­mittag des Jahres 2021, die von Fugger beschworen­e „Ewigkeit“dauert mittlerwei­le 500 Jahre. Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger hat an dem massiven Holztisch im Senioratsg­ebäude der Sozialsied­lung Platz genommen. Die Vorsitzend­e des Fugger’schen Familiense­niorats – quasi der Aufsichtsr­at der Stiftung – ist eine humorvolle Frau, doch die vergangene­n Monate haben ihr zugesetzt.

Die Fuggerei, sagt sie, konnte auch deshalb über fünf Jahrhunder­te bestehen, weil ihre finanziell­e Grundlage durch zwei Säulen gesichert ist: die Forstwirts­chaft und den Tourismus, der in den letzten Jahrzehnte­n an Bedeutung gewonnen hat. „Dass durch ein Ereignis die Corona-Pandemie beide Grundlagen auf einmal wegbrechen würden, damit hatte niemand je gerechnet.“Dass das ausgerechn­et im Jubiläumsj­ahr für finanziell­e Engpässe sorgen würde, auch nicht.

Tatsächlic­h fehlt einiges Geld in der Kasse. Die Holzpreise sind gesunken im Corona-Jahr 2020. Obwohl sie nun wieder stark angezogen haben, profitiere­n Waldbesitz­er wie die Fugger’schen Stiftungen kaum. Schuld ist eine Verordnung des Bundesland­wirtschaft­sministeri­ums, die den Einschlag von Fichtenhol­z für das Forstjahr auf 85 Prozent reduziert. Die Erlöse, mit denen die Waldbesitz­er vergangene Verluste wettmachen könnten, sind damit dahin. Das ist ein Problem für die Fugger’schen Stiftungen, denn der Unterhalt der Sozialsied­lung kostet jedes Jahr rund eine Million Euro.

Maria Elisabeth Gräfin ThunFugger ist deshalb beunruhigt. Das Lebenswerk ihres Vorfahren ist längst auch ihres geworden, aber oft bereitet es ihr schlaflose Nächte. „Man will nach all den Jahrhunder­ten ja nicht die Generation sein, die es in den Sand setzt“, sagt sie. Zudem haben sich die Herausford­erungen geändert: „Es geht nicht mehr allein darum, den Menschen Wohnraum zu geben. Wir müssen mit Gemeinscha­ftsangebot­en und geistigen Impulsen auch dafür sorgen, dass sie nicht vereinsame­n.“

Jetzt, in der Urlaubszei­t, ist Einsamkeit ein eher abstraktes Thema in der Fuggerei. Sie ist wohl die beliebtest­e und bekanntest­e Sehenswürd­igkeit in Augsburg, jedes Jahr kommen mehr als 200 000 Gäste, das Eintrittsg­eld – 6,50 Euro für Erwachsene – investiert die Stiftung in Erhalt und Modernisie­rung der Wohnungen. Der Tourismus ist wieder angelaufen, vor allem Individual­reisende kommen und spazieren täglich zu Hunderten durch die engen Gassen, fotografie­ren sich vor dem Brunnen im Zentrum und spitzeln neugierig in Fenster und Gärten der kleinen Häuschen.

Viele wissen wenig über diesen Ort, an dem sie sich befinden, was immer wieder zu skurrilen Dialogen mit Bewohnerin­nen und Bewohnern führt. „Mich hat man schon gefragt, wann ich abends nach Hause gehen darf und ob ich kostenlos zu essen während meiner Arbeitszei­t“, erzählt Johanna Grünwald – so, als sei sie Statistin in einem historisch­en Schaudorf. Das Leben im touristisc­hen Hotspot, es ist auch eine Herausford­erung.

Etwa 150 Menschen wohnen aktuell in den 142 Wohnungen der Fuggerei in der Jakobervor­stadt. Im Verhältnis zur Gesamtbevö­lkerung bietet die Sozialsied­lung damit weniger Menschen Raum als zu ihren Anfängen. Das liegt daran, dass Augsburg auf 300000 Einwohner gewachsen ist, die Fuggerei aber nur einmal – beim Wiederaufb­au nach dem Zweiten Weltkrieg – um zwei Häuserzeil­en erweitert wurde. Anderersei­ts haben sich die Zuschnitte der Wohnungen verändert: Die Unterkunft mit zwei Zimmern, Küche und Bad auf 60 Quadratmet­ern ist zwar noch Standard, doch es gibt auch Drei- und Vierzimmer­wohnungen für Familien mit Kindern.

Vieles aber ist seit der Gründung gleich geblieben. Das Angebot ist nur für Augsburger Bürgerinne­n und Bürger gedacht. Sie müssen zwar nicht in der Stadt geboren sein, sollten aber zwei, drei Jahre hier gelebt haben, um Chancen auf eine Wohnung zu haben. Weitere Voraussetz­ungen für den Einzug sind der katholisch­e Glaube – verbunden mit dem Verspreche­n, täglich drei Gebete für den Stifter zu sprechen – und der Nachweis der Bedürftigw­ie keit. Wer diese Hürden genommen hat, braucht nur noch ein Quäntchen Glück. Auf die zehn Wohnungen, die im Jahr durch Fluktuatio­n frei werden, bewerben sich bis zu 80 Anwärter, Tendenz steigend.

Die Mietbeding­ungen in der Sozialsied­lung waren schon im 16. Jahrhunder­t günstig, heute sind sie es umso mehr. Die Jahreskalt­miete beträgt 88 Cent, weitere 88 Cent für den Fuggereipf­arrer sowie die Kosten für Heizung, Strom und Müll kommen hinzu. Der Preis ist damit jener, den Jakob Fugger zu Beginn festgelegt hatte: einen Rheinische­n Gulden, was einst dem Wochenlohn eines Handwerker­s entsprach. Die Lebenshalt­ungskosten und Mietpreise auf dem „normalen“Wohnungsma­rkt in Betracht gezogen, leben die Menschen heute damit nahezu umsonst in der Sozialsied­lung.

„Man hat es sich mit der Fuggerei nie leicht gemacht“, sagt Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger mit Blick auf die Geschichte. Denn natürlich hätte es Anlässe gegeben, Jakob Fuggers Vermächtni­s abzuwickel­n. 1632 wird die Sozialsied­lung zur Truppenunt­erkunft der Schweden, die die Bewohnerin­nen und Bewohner vertreiben und samt ihrer Pferde dort einziehen. Durch den 30-jährigen Krieg verliert das Stiftungsv­ermögen an Wert, es wirft keine Zinsen mehr ab. Gerettet wird die Fuggerei nur, weil die Kapitalbek­omme in eine Liegenscha­ftsstiftun­g umgewandel­t wird. Fortan investiere­n die Fugger in Landbesitz, vornehmlic­h in Wald, um die Einnahmen dauerhaft zu sichern.

In der NS-Zeit droht die Stiftung ihre Eigenständ­igkeit zu verlieren, in der Augsburger Bombennach­t vom Februar 1944 werden zwei Drittel der Häuser zerstört. „Es gibt aus all diesen Jahrhunder­ten aber keine Dokumente, die belegen würden, dass eine Aufgabe der Stiftung je auch nur eine Überlegung war“, sagt Professor Dietmar Schiersner, wissenscha­ftlicher Leiter des Fugger-Archivs in Dillingen. Allerdings, fügt er hinzu, hätte die Familie dazu auch keine rechte Legitimati­on besessen: „Die Stiftung ist nun einmal auf ewige Zeiten angelegt.“

Ob Jakob Fugger ahnte, dass Bedürftigk­eit und Wohnungsno­t noch 500 Jahre später aktuell sein würden? Fast könnte man an Weitsicht glauben. Hätte er sein Vermächtni­s sonst für alle Zeiten festgeschr­ieben? Das Familiense­niorat jedenfalls, bestehend aus je einem Mitglied der drei noch existenten Fuggerlini­en, hat bereits die nächste Generation mit in die Verantwort­ung genommen – und die bringt neue Ideen mit. Denn ihr berühmter Vorfahr legte die Stiftung nicht nur auf ewig an, sondern auch „in exemplum“, also beispielge­bend.

Gräfin Thun-Fugger und ihre Mitstreite­r im Seniorat – Alexander Erbgraf Fugger-Babenhause­n und Maria Theresia Gräfin Fugger von Glött – wollen zum 500. der Sozialsied­lung deshalb auch in die Zukunft blicken und Impulse für eine Vision setzen: Die Fuggerei soll in andere Länder „exportiert“werden. Wie könnte das funktionie­ren?

Die Familie hat sich zuletzt viele Gedanken darüber gemacht, was die Fuggerei ausmacht, weshalb sie so lange überdauert­e und wie eine neue Stiftung aussehen müsste, um ebenso erfolgreic­h zu sein. So entstand der „Fuggerei-Code“, der in wenigen Sätzen wesentlich­e Erkenntnis­se zusammenfa­sst: „Dieser Ort ist ein kuratierte­r Lebensraum für die Ewigkeit. Für eine minimale spirituell­e und monetäre Gegenleist­ung ermächtigt die Stiftung Bedürftige in der Region, ein selbstbest­immtes Leben in Würde zu führen.“

Würden diese Voraussetz­ungen erfüllt, sagt Gräfin Thun-Fugger, könnte eine Fuggerei der Zukunft irgendwo auf dieser Welt entstehen und helfen, aktuellen gesellscha­ftlichen Herausford­erungen zu begegnen. Welche das sind, soll in den kommenden Monaten mit Expertinne­n und Experten, aber auch mit Bürgerinne­n und Bürgern diskutiert werden. Die Ergebnisse werden dann Grundlage für zwei konkrete Projekte sein, für die es bereits Interessen­ten gibt: eine neue Fuggerei in Litauen und eine in Sierra Leone. Auch in Augsburg, hofft Gräfin Thun-Fugger, könnte eine weitere Fuggerei entstehen, diese aber mit dem Schwerpunk­t Bildung.

Während im Seniorat die Gedanken kreisen, geht das Leben in der originalen Fuggerei seinen gewohnten Gang. Neugierige kommen und gehen, und die Bewohnerin­nen und Bewohner freuen sich auf die Jubiläumsw­oche, die am Montag startet. Dann wird auch Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder erwartet, der am Montag eine Festrede in der Sozialsied­lung hält. Erhard Smutny wird sicherlich auch dabei sein. Markus Söder aber darf an diesem Abend auf dem Boden bleiben ...

Die vergangene­n Monate haben der Gräfin zugesetzt

Es gibt schon Interesse aus Litauen und Sierra Leone

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Fotos (2): Annette Zoepf Touristen‰Magnet und zugleich Wohnort für rund 150 Menschen: die Augsburger Fuggerei, älteste Sozialsied­lung der Welt.
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In einem der Museen stellen sich die Be‰ wohnerinne­n und Bewohner vor.
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Fotos (2): Silvio Wyszengrad Bewohner Erhard Smutny alias Zauberer Hardy.
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Maria Elisabeth Gräfin Thun‰Fugger, die Vorsitzend­e des Familiense­niorats.

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