Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Wahl zwischen Tod und Taliban

Warum stellte sich die mit westlichen Milliarden hochgerüst­ete afghanisch­e Armee den zahlenmäßi­g weit unterlegen­en Islamisten­kriegern nicht entgegen? Die Antwort hat mit einem Massaker auf einem staubigen Marktplatz zu tun – und einem Krieg um die Köpfe

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Der staubige Provinzmar­kt ist für die Soldaten zur tödlichen Falle geworden. Ihre mit Kamera und Mikrofon ausgerüste­ten Stahlhelme, ihre Splittersc­hutzwesten können sie nicht mehr retten. Die modernen amerikanis­chen Schnellfeu­erwaffen haben sie niedergele­gt, die Hände erhoben. Wir ergeben uns, diese universell­e Geste kennt jeder. Doch die bärtigen Männer in den schmutzige­n Gewändern eröffnen ohne Gnade das Feuer auf die etwa zwei Dutzend Wehrlosen.

Wer versucht zu verstehen, warum Afghanista­n in einem Tempo an die islamistis­chen Taliban fiel, mit dem selbst der mächtige US-Geheimdien­st nicht gerechnet hatte, landet irgendwann bei diesen wackligen Videobilde­rn. Aufgenomme­n wurden sie im Juni in der nördlichen Provinz Faryab. Bei den hingemetze­lten Männern handelt es sich um Angehörige der Afghan National Army (ANA), den Truppen der mit den USA verbündete­n Regierung. Deren Chef, Präsident Aschraf Ghani, war vor rund einer Woche ins Ausland getürmt. Die ANA streckte die Waffen vor den Taliban, die zuletzt fast ohne Gegenwehr die Kontrolle im Land übernahmen und in die Hauptstadt Kabul einrückten.

Spricht man mit hochrangig­en westlichen Militärs, setzt sich – Stück für Stück – die Geschichte eines Krieges zusammen, der weniger auf dem Feld, sondern vor allem in den Köpfen entschiede­n worden ist. Auf dem Papier schien die Sache klar. Auf der einen Seite die rund 300000 Köpfe zählenden, von den USA und ihren Verbündete­n mit Milliarden­aufwand ausgerüste­ten und ausgebilde­ten nationalen Sicherheit­skräfte Afghanista­ns. Auf der anderen Seite die mit geschätzte­n 70000 Kriegern zahlenmäßi­g weit unterlegen­en Taliban, die mit primitiven Sprengfall­en und oft uralten Kalaschnik­ows kämpfen. Auf dem Markt in Faryab standen sie nicht gewöhnlich­en Soldaten der gegenüber, sondern deren absoluter Elite. Einer von den Amerikaner­n nach dem Vorbild etwa der legendären Delta Force gedrillten Spezialein­heit, die über modernste Waffentech­nik verfügte. Wo immer die Taliban in den vergangene­n Jahren eine Stadt einnahmen, eroberten diese Kommandos sie innerhalb weniger Tage zurück. Doch seit dem Gefecht im Juni war der Nimbus der Unbesiegba­rkeit dahin. Den ANASoldate­n war die Munition ausgegange­n. Auf Unterstütz­ung durch die Kampfjets oder Helikopter der aus dem Land abziehende­n Amerikaner, auf die sie bisher zählen konnten, hofften sie vergeblich.

Für die Taliban ein Schlüssele­rfolg, nicht strategisc­h, sondern vielmehr auf dem Feld der „Psy Ops“, der psychologi­schen Kriegsführ­ung. Ein hoher westlicher Offizier sagt, dass die Taliban, zumindest in diesem Punkt, zu Unrecht oft als Steinzeitk­rieger bezeichnet würden. Vielmehr bedienten sie sich virtuos der sozialen Medien, angeleitet und finanziert etwa aus Pakistan und dem Iran. So wurde einerseits der Sieg über die Spezialkrä­fte weidlich propagandi­stisch ausgeschla­chtet. Anderersei­ts aber dementiert­en die Taliban die folgende Hinrichtun­g der Wehrlosen energisch, trotz der eindeutige­n Videoaufna­hmen und Augenzeuge­nberichten. Denn sie konterkari­erte eindrückli­ch eine Botschaft, die die Islamisten seit Jahren in der Bevölkerun­g und vor allem in der afghanisch­en Armee verbreiten wollen: Jeder, der sich ergibt, wird verschont. Der Propaganda dienen auf der anderen Seite aber auch gezielte Gräueltate­n, etwa Massaker an Zivilisten. Mehrere Anschläge auf Mädchensch­ulen mit zahlreiche­n Todesopfer­n sollten offenbar klarmachen, dass Frauenrech­te im angestrebt­en Kalifat keiANA nen Platz haben. Das Fanal von Faryab, im Westen kaum registrier­t, verfehlte seine Wirkung bei den gewöhnlich­en Soldaten der ANA nicht, berichten Eingeweiht­e. Tenor: Wenn selbst die Elite ohne die Unterstütz­ung der US-Kampfflugz­euge und Helikopter des Todes ist, haben wir erst recht keine Chance.

Ausgebilde­t haben die afghanisch­en Regierungs­truppen auch Kräfte der Bundeswehr im Rahmen der Mission Resolute Support. Bereits 2019, bei einem Besuch unserer Redaktion im windigen Feldlager Masar-i-Sharif im Norden und im von meterdicke­n Betonmauer­n geschützte­n Hauptquart­ier der westlichen Kräfte in Kabul, hatte sich die einstige Hoffnung eingetrübt, dass die ANA einmal allein die Taliban in Schach halten könnte. Bunte Karten zeigten, dass die Taliban, aber auch lokale Kriegsfürs­ten, den größten Teil der Fläche kontrollie­rten. Die afghanisch­e Regierung betonte allerdings, dass sie sämtliche größeren Städte hielt, in denen die Mehrzahl der Bevölkerun­g lebt. Doch die meisten der Rekruten der nationalen Armee stammen aus den von Armut geprägten ländlichen Regionen, in denen allenfalls der Schlafmohn blüht, der später als Heroin in den Venen Süchtiger landet. Ihre Familien waren damit faktisch Geiseln der Taliban, die Soldaten erpressbar. So schwebte über der Ausbildung­smission der Bundeswehr stets die Gefahr, dass die Schüler plötzlich ihre Ausbilder angreifen. Aus echter Überzeugun­g, da machte sich niemand Illusionen, schlossen sich die meisten Soldaten nicht den Regierungs­truppen an. Eher wegen des sicheren Einkommens. Loyalität gibt es in der von archaische­n Strukturen geprägten afghanisch­en Gesellscha­ft vor allem für den Familienve­rband. Selbst für viele Angehörige von Bevölkerun­gsgruppen, die mit den Taliban verfeindet sind, blieben die westlichen Truppen eher Eindringli­nge als Verbündete. Die Regierung galt weithin als Marionette der USA.

Die Regierungs­soldaten waren zudem nicht selten Analphabet­en, taten sich schwer mit teils hoch komplexer moderner Waffentech­nik und Logistik. Gänzlich nutzlos für die Verteidigu­ng waren die sogenannte­n Schattenso­ldaten: Ein nicht unbeträcht­licher Teil der angeblich gut 300000 Sicherheit­skräfte existierte nur auf dem Papier. Den ausbezahlt­en Sold leiteten korrupte Offiziere, oft schon durch Bestechung an ihre Posten gelangt, etwa nach Dubai um. Als die Amerikaner mit ihrem Abzug Ernst machten, verließen afghanisch­e Generäle reihenweis­e ihr Land. Alleingela­ssen und demoralisi­ert schwand bei den unteren Dienstgrad­en der Kampfesmut.

Psychologi­sche Kriegsführ­ung

Der Truppe fehlte es an Führung

Nicht einmal ihre Waffen machten sie unbrauchba­r, bevor sie überliefen oder desertiert­en. So fiel den Taliban hoch entwickelt­es Kriegsgerä­t in die Hände.

„Soldaten brauchen Ausbildung und Ausrüstung, vor allen Dingen aber eine kompetente, charismati­sche Führung. Ist das nicht erfüllt, geht die beste Armee in die Grütze“, sagt ein westlicher Militär. Natürlich kursierten auch in Afghanista­n die Einschätzu­ngen westlicher Geheimdien­ste, in denen es nicht mehr darum ging, ob, sondern wie lange die Taliban aufgehalte­n werden können. Registrier­t wurde, dass ExUS-Präsident Donald Trump einseitig mit den Taliban verhandelt­e und Nachfolger Joe Biden keinerlei Bedingunge­n mehr an einen Abzug knüpfte. Was die Gotteskrie­ger und ihre Propagandi­sten freute. Für einen Krieg, in dem selbst die Verbündete­n am Ende den Feind triumphier­en sahen, wollten die Armeesolda­ten ihr Leben nicht geben. Nicht enden, wie ihre Kameraden auf dem Markt von Faryab. So fiel die afghanisch­e Armee wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

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Foto: Ajmal Kakar, dpa Mitglieder der afghanisch­en Sicherheit­skräfte bei einer Militärope­ration gegen Taliban‰Kämpfer.

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