Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Chronologi­e eines beispiello­sen Scheiterns

Wie eine einzige Woche das Versagen des Westens im Umgang mit Afghanista­n verdeutlic­ht

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg/Kabul Es war eine Woche, wie sie die deutsche Politik nur selten erlebt: Aus einem außenpolit­ischen Thema, das zuletzt höchstens noch für einen interessie­rten Zirkel von Bedeutung schien, wurde ein Symbol des kollektive­n Scheiterns. Eigene Fehler der Bundesregi­erung, Fehler internatio­naler Partner, bürokratis­che Behäbigkei­t und ein eklatanter Mangel an Wissen über das Land am Hindukusch haben dazu geführt, dass nicht nur Afghanista­n selbst inzwischen in den Abgrund blickt, sondern der Westen fassungslo­s vor den Trümmern eines 20 Jahre währenden militärisc­hen Einsatzes steht.

Die Nachrichte­n, die seit dem vergangene­n Wochenende aus Kabul nach Deutschlan­d dringen, sind selbst für erfahrene Einsatzkrä­fte schwer zu verdauen. Da ist der Bundeswehr­general Jens Arlt, er hat die schwere Aufgabe, die Evakuierun­gsaktion der Bundeswehr zu leiten. „Es ist sehr, sehr turbulent alles“, sagt er in einer Online-Pressekonf­erenz des Verteidigu­ngsministe­riums. Über verstopfte Straßen quälen sich all jene in Richtung Flughafen, die einen der Flieger erwischen wollen, die die Bundeswehr dort bereithält. Schon der Start der Aktion verläuft turbulent. Über fünf Stunden muss am Montag der Airbus das Gelände überfliege­n, weil sich zu viele verzweifel­te Menschen auf dem Rollfeld aufhalten. Den Piloten droht Treibstoff auszugehen, mit dem letzten Tropfen im Tank landen sie um 22 Uhr. Von einer Entspannun­g der Lage kann seither keine Rede sein. „Sie werden vielleicht den einen oder anderen Schuss im Hintergrun­d hören. Sie sehen die verzweifel­ten Augen der Afghanen und auch der Staatsbürg­er unterschie­dlicher Nationen, die einfach versuchen, in den inneren Bereich des Kabul Internatio­nal Airports zu gelangen, das ist schon dramatisch, was wir sehen“, sagt Arlt. „Unterschie­dliche Vertreter“der deutschen Seite versuchten, in den Außenberei­chen „unsere Leute“zu finden.

Doch „unsere Leute“– wer ist das überhaupt? Nach 20 Jahren in Afghanista­n ist die deutsche Politik erschrecke­nd planlos, wessen Leben sie retten will. Tausende afghanisch­e Männer und Frauen hatten in den vergangene­n Jahrzehnte­n Projekte unterstütz­t, als Übersetzer, Entwicklun­gshelferin­nen, Fahrer. Viele von ihnen werden genau deshalb jetzt von den Taliban mit dem Tod bedroht. Schon im April will Bundesvert­eidigungsm­inisterin Annegret Kramp-Karrenbaue­r sie nach Deutschlan­d holen – sie kann sich nicht durchsetze­n. Die verschiede­nen Ministerie­n in Berlin verstricke­n sich über Wochen in Erklärunge­n, später in gegenseiti­ge Schuldzuwe­isungen. Am Ende ist vor allem eines klar: Wirklich gehandelt hat niemand. Auch dann nicht, als die Taliban immer größere Gebiete erobern konnten. Die Sorge, es könnte wieder eine Flüchtling­swelle über Deutschlan­d schwappen, dominiert die Debatte. Noch am 7. Juli hebt ein Abschiebef­lug nach Afghanista­n ab. Helfer, die bis Anfang Juli als schutzwürd­ig eingestuft werden und ein Visum erhalten, müssen sich um Flug und Bezahlung selbst kümmern.

Einer, der in dieser Woche besonders in den Fokus rückt, ist Außenminis­ter Heiko Maas (SPD). Nicht wenige aus der Opposition halten ihn für eine Fehlbesetz­ung, fühlen sich bestätigt. Es ist gerade mal zwei Monate her, dass er dem Bundestag Rede und Antwort zur weiteren Entwicklun­g in Afghanista­n stehen musste. Entschiede­n spricht er sich damals gegen einen Abschiebes­topp aus, verwies auf Friedensge­spräche zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul, in die er Hoffnung setze. Zwar könnten die Kampfhandl­ungen mit dem Abzug der Nato-Truppen erst einmal zunehmen, räumt Maas ein. Aber nicht, ohne hinzuzufüg­en: „Alle diese Fragen haben ja die Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban in Afghanista­n das Zepter in der Hand haben. Das ist nicht die Grundlage meiner Annahme.“Noch am vergangene­n Freitag versichert eine Außenamtsv­ertreterin bei einer Unterricht­ung den Obleuten des Auswärtige­n Ausschusse­s, Kabul werde nicht fallen, wie Abgeordnet­e dem Berliner Tagesspieg­el bestätigen.

Hinter den Kulissen rumort es. Selbst die deutsche Botschaft in Kabul stößt in Berlin auf taube Ohren. Immer wieder soll der Vize-Botschafte­r, so schreibt es der Spiegel, massive Warnungen ausgesproc­hen haben. Nach Informatio­nen des ARD-Hauptstadt­studios schrieb Jan Hendrik van Thiel in seinem Lageberich­t vergangene Woche, „dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“worden sei. Der Diplomat stellt klar: „Wenn das an irgendeine­r Stelle diesmal schiefgehe­n sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen.“

Doch in den Ministerie­n haben die Bedenkentr­äger das Sagen. Einer von ihnen soll ausgerechn­et Entwicklun­gshilfe-Minister Gerd Müller (CSU) sein. Der Spiegel schildert, dass sein Haus es war, das befürchtet­e, afghanisch­e Helferinne­n und Helfer vor Ort zu verlieren, wenn man denen ein Angebot mache, nach Deutschlan­d zu gehen. Es soll nicht das Signal ausgesandt werden, die Sicherheit­slage mache ein Verlassen des Landes erforderli­ch.

Dass in Kabul plötzlich alles ganz schnell ging, hat wohl wesentlich mit den Amerikaner­n zu tun. Die räumten am Wochenende die sogenannte „green zone“, das stark gesicherte Diplomaten­viertel in Kabul – vielen anderen Nationen schien das entgangen zu sein, nicht aber den Taliban. Die verstehen dies als Einladung, dass die Stadt nun ihnen gehört. Präsident Aschraf Ghani flieht ins Exil, nach eigener Aussage nur mit Hausschuhe­n und wenigen Habseligke­iten, nach Aussage vieler Beobachter hingegen mit massenhaft Geld. Der Sündenfall der USRegierun­g setzt einen Domino-Effekt in Gang, der selbst Präsident Joe Biden unter sich begräbt. Sein Vorgänger Donald Trump war es, der die Verhandlun­gen mit den Taliban begann. Doch bis heute weigert sich Biden, dies als Fehler einzugeste­hen.

In Berlin gehen die Schuldzuwe­isungen weiter. Längst hat der BND durchsicke­rn lassen, dass er nicht so unfähig war, wie es die Politik gerne darstellen würde. Selbst wenn die Agenten den Fall Kabuls nicht präzise vorhergesa­gt hatten, so warnten sie doch seit langem davor, dass die Machtübern­ahme der Taliban nach dem Abzug der internatio­nalen Truppen nur eine Frage der Zeit sei.

Mit Staunen beobachtet die Welt nicht nur das Scheitern des Westens, sondern auch das Auftreten der Taliban. „Wir haben ganz Afghanista­n in elf Tagen erobert“, sagt der Taliban-Sprecher am Dienstag. Die Gruppe gibt eine Pressekonf­erenz, selbstbewu­sst sind die Männer mit den schussbere­iten Waffen, aber wohl auch ein wenig selbst von ihrem raschen Erfolg überrascht. Davon, dass sie das Land regieren, kann ohnehin noch nicht die Rede sein. Die Verwaltung­sstrukture­n liegen brach, mit Gewehren lässt sich eine Stadt erobern, aber nicht managen. Das war ihnen schon in den 90er Jahren nicht gelungen.

In Afghanista­n wird die Verzweiflu­ng der Menschen am Flughafen von Stunde zu Stunde gefährlich­er. Kämpfer der Taliban feuern in die Luft und schlagen mit Peitschen, um die Leute zu vertreiben. Am Freitag wird ein deutscher Zivilist auf dem Weg zum Airport angeschoss­en, ein zweiter wird verletzt. Der Zeitdruck ist gewaltig. Denn: Die Deutschen können nur handeln, solange die Amerikaner vor Ort sind, alleine wären sie verloren. Die USA aber will ihre Truppen bis zum

31. August abziehen. Biden schließt zwar nicht aus, dass sie zur Evakuierun­g von US-Bürgern auch über den

31. August hinaus bleiben – sicher ist das, wie so vieles in Afghanista­n in dieser Woche, nicht.

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Foto: dpa Soldaten versuchen Menschen in Afgha‰ nistan zu retten.

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