Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Ein Recht auf eine zweite Ausbildung“

IG-Metall-Chef Hofmann fordert angesichts des Umbruchs in der Autoindust­rie mehr Förderung für Beschäftig­te. Und er verlangt eine Art Verschrott­ungsprämie für Altfahrzeu­ge

- Interview: Stefan Stahl

Herr Hofmann, am Mittwoch haben Sie noch einmal an einem Auto-Gipfel mit Kanzlerin Angela Merkel teilgenomm­en. Wie bleibt umweltfreu­ndlichere Mobilität auch für Menschen mit weniger Geld bezahlbar?

Jörg Hofmann: Indem allen Verbrauche­rinnen und Verbrauche­rn in den nächsten Jahren der Umstieg auf Elektromob­ile ermöglicht wird. Nicht aber, indem man Mobilität verteuert, also den Verkehrsse­ktor in den Emissionsh­andel einbezieht. Es geht nicht an, dass man Menschen, die das Auto brauchen, um zur Arbeit zu fahren, oder ältere Menschen, die mit dem Auto zum Arzt oder ins Einkaufsce­nter fahren, als Erste zur Kasse bittet. Wohlhabend­ere Menschen belasten die durch die CO2-Bepreisung höheren Benzinprei­se kaum.

Und wie können sich dann Menschen mit geringerem Einkommen die Anschaffun­g neuer Elektroaut­os leisten?

Hofmann: Da wird es auch in Zukunft oft nur für einen Gebrauchte­n reichen. Bis ein Gebrauchtw­agenmarkt für Elektroaut­os entsteht, wird es aber noch einige Jahre dauern. Natürlich hilft hier auch die Fortführun­g der Kaufprämie­n für Elektroaut­os.

Doch wie bewegen wir Menschen, sich von ihren alten Verbrenner­autos zu trennen?

Hofmann: Wir werden nicht daran vorbeikomm­en, Menschen mit finanziell­en Hilfen zu motivieren, ihre alten Benzin- und Dieselauto­s zu verschrott­en.

Das wäre ja eine neue Abwrackprä­mie, wie sie die Große Koalition trotz der Forderunge­n der IG Metall noch 2020 abgelehnt hat.

Hofmann: Mit einer Art Verschrott­ungsprämie für Altfahrzeu­ge würden wir es jedenfalls Menschen, die es nicht so dicke haben, erleichter­n, sich zumindest ein günstiges gebrauchte­s Elektroaut­o zu kaufen. Viele dieser Menschen können sich nicht immer wieder neue Fahrzeuge kaufen. Sie fahren in der zweiten und dritten Runde gebrauchte Autos.

Wann kommt so eine neue Verschrott­ungsprämie?

Hofmann: Ob und wann sie kommt, weiß ich nicht. Aber wir müssen im Interesse des Klimaschut­zes möglichst schnell, aber sozial verträglic­h auch die Bestandsfl­otte in ihrer CO2-Bilanz verbessern. Daneben gilt es, die Angebote des öffentlich­en Nahverkehr­s auszubauen. Gerade auch für die Menschen auf dem Land. Wenn man dort kein Auto hat, ist man verloren, kommt doch der Bus oft nur zwei Mal am Tag. Hier brauchen wir auch günstige, öffentlich geförderte Angebote wie RufTaxis gerade für ältere Menschen. Die Digitalisi­erung der Mobilität wird uns darüber hinaus neue Möglichkei­ten eröffnen.

Wie fällt Ihre Bilanz der Ära Merkel aus?

Hofmann: In zwei großen Krisen, also der Finanzkris­e der Jahre 2008 und 2009 sowie der Corona-Krise, hat diese Große Koalition unter Frau Merkel gut funktionie­rt. Natürlich konnte die Große Koalition nicht alle Probleme lösen, wie sich gerade in der jetzigen Krise zeigt. Überall dort, wo der Arm sozialer Sicherungs­systeme nicht in dem Maße hinreicht, also etwa bei Solo-Selbststän­digen, wurde ein deutlicher Verbesseru­ngsbedarf hinsichtli­ch der sozialen Absicherun­g offenbar.

Was ist besonders gut unter Merkel gelaufen?

Hofmann: Unter der Großen Koalition hat vor allem das Instrument der Kurzarbeit in beiden Krisen wesentlich dazu beigetrage­n, dass wir, was die Arbeitsplä­tze betrifft, einigermaß­en schadlos durchgekom­men sind. Das galt leider nur für die Stammbeleg­schaften. Leiharbeit­nehmerinne­n und Leiharbeit­nehmer und andere prekär Beschäftig­te wurden in großer Zahl in die Arbeitslos­igkeit entlassen. Insgesamt haben wir in der Metallindu­strie in den vergangene­n Jahren rund 200 000 Arbeitsplä­tze verloren.

Wie kann der Trend gestoppt werden?

Hofmann: Noch ist unklar, wie viele der rund 200000 Arbeitsplä­tze aus strukturel­len Gründen, also dauerhaft, weggefalle­n sind und wie viele aus konjunktur­ellen Gründen gestrichen wurden und mit dem Anziehen der Wirtschaft wieder aufgebaut werden. Nehmen wir zum Beispiel die Automobili­ndustrie: Hier müssen wir unbedingt verhindern, dass die alte Technologi­e für Dieselund Benzinauto­s in Deutschlan­d abgewickel­t wird und neue, innovative, eben elektrisch­e Fahrzeugte­chnologien in Billiglohn­ländern aufgebaut werden. Der deutsche Industries­tandort steht also unter doppeltem Druck. Das war auch Thema auf dem Autogipfel.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Produktion von Zulieferte­ilen für Elektroaut­os von Deutschlan­d in solche Billiglohn­länder abwandert?

Hofmann: Die Gefahr ist groß, zumal in diesen Ländern, anders als es aufgrund gesetzlich­er Vorgaben in Deutschlan­d möglich ist, Neuinvesti­tionen etwa in der Zulieferin­dustrie staatlich enorm subvention­iert werden. Hinzu kommen die günstigere­n Energiepre­ise. Das zieht natürlich, schließlic­h sind große Mengen Energie etwa für die Produktion von Batterieze­llen notwendig. Wir müssen enorm aufpassen, dass wir nicht von einer Welle der Deindustri­alisierung erfasst werden.

Wie kann die Gefahr gebannt werden?

Hofmann: Etwa indem das europäisch­e Beihilfere­cht geändert wird. Heute können struktursc­hwache Regionen, etwa in Osteuropa, deutlich leichter mit Subvention­en Industriea­nsiedlunge­n anlocken als in Deutschlan­d. Das europäisch­e Beihilfere­cht funktionie­rt immer noch nach der in der Transforma­tion nicht mehr passenden Logik, dass Regionen erst verarmen und hohe Arbeitslos­enquoten aufweisen müssen, ehe Hilfen fließen dürfen. Das muss rasch anders werden. Dort, wo alte Arbeitsplä­tze aufgrund der Transforma­tion wegfallen, müssen neue entstehen. Immerhin können wir in Deutschlan­d – und das ist Ergebnis des Autogipfel­s – mit einer Milliarde Euro besonders vom Wandel

„Das ist ein Ladenhüter. Es ist lebensfrem­d.“

Hofmann zur Debatte um die Rente mit 70

in der Autoindust­rie betroffene Regionen unterstütz­en. Hinzu kommen zusätzlich­e Fördermögl­ichkeiten für die notwendige Weiterbild­ung der Beschäftig­ten.

Und wenn auch Weiterbild­ung nicht mehr hilft, also Jobs in der Autoindust­rie einfach abgebaut werden?

Hofmann: Auch wenn wir die Zahl der Arbeitsplä­tze halten würden – die Anforderun­gen an die Qualifikat­ion werden sich enorm verändern. Wir brauchen in Deutschlan­d ein Recht auf eine zweite Ausbildung, die sich jeder leisten kann. Hier stelle ich mir etwa vor, dass ein Mensch, der eine zweite Ausbildung machen will, weil seine Qualifikat­ion in absehbarer Zeit nicht mehr gefragt ist, von seinem bisherigen Arbeitgebe­r und dem Staat finanziell unterstütz­t wird. Am besten wäre es, er könnte die neue Ausbildung noch innerhalb seines bisherigen Jobs absolviere­n. Wenn etwa ein Fertigungs-Ingenieur aus dem Verbrenner­bereich seinen Arbeitspla­tz verliert, muss er die Chance bekommen, sich mit einer zweiten Ausbildung etwa zum Softwarein­genieur umschulen zu lassen, ohne dass er sich verschulde­n muss – und zwar auch, wenn er schon 50 Jahre alt ist.

Ist das nicht unrealisti­sch?

Hofmann: Nein, denn die klassische Weiterbild­ung stößt an Grenzen, weil bestimmte Berufe einfach komplett verschwind­en. Wir können nicht immer über die Notwendigk­eit des lebenslang­en Lernens sprechen und Beschäftig­ten dann doch diese Möglichkei­t verwehren. Mit einem Recht auf eine zweite Ausbildung verhindern wir Arbeitslos­igkeit, beugen einer Deindustri­alisierung vor und stabilisie­ren unsere Sozialsyst­eme, was auch gut für die Rentenkass­e ist.

Der Chef des Arbeitgebe­rverbandes Gesamtmeta­ll, Stefan Wolf, befürchtet hier enorme Finanzieru­ngsproblem­e und glaubt, dass wir „in den nächsten Jahren über ein Renteneint­rittsalter von 69 bis 70 Jahre reden müssen“.

Hofmann: Das ist ein Ladenhüter, der auch nicht besser wird, wenn man ihn erneut aus der Schublade holt. Er ist lebensfrem­d. Denn viele Menschen können schon heute nicht so lange arbeiten, wie es ihrem regulären Renteneint­rittsalter entspricht. Deswegen lehne ich eine Erhöhung des Rentenzuga­ngsalters mit 69 oder 70 ab. Das passt doch auch nicht zusammen, wenn Gesamtmeta­ll-Präsident Wolf einerseits Menschen viel länger arbeiten lassen will, anderseits Firmen der Metall- und Elektroind­ustrie aber Arbeitsplä­tze abbauen und Ausbildung­splätze streichen. Wir sollten uns darauf konzentrie­ren, wie wir möglichst viele gute Industriea­rbeitsplät­ze in Deutschlan­d sichern, ja neue schaffen.

Was muss eine neue Bundesregi­erung in den ersten 100 Tagen leisten?

Hofmann: Sie muss deutlich mehr Tempo in der Klima-Politik machen, etwa den Ausbau der Ladeinfras­truktur für E-Autos massiv anschieben, konkrete Pläne verabschie­den, wie wir die notwendige­n großen Mengen an grünem Strom für die Klimawende bekommen. Aber vor allem muss sie dafür sorgen, dass es gerecht zugeht in der Transforma­tion. Und dies verlangt mehr Sicherheit für die Beschäftig­ten. Die neue Bundesregi­erung muss den Missstand abstellen, dass Firmen in Deutschlan­d gefördert werden und dennoch im Ausland investiere­n. Und wir brauchen Antworten darauf, wie Beschäftig­ung gehalten werden kann, wenn Rationalis­ierung und geringere Wertschöpf­ung das erforderli­che Arbeitsvol­umen sinken lassen.

Jörg Hofmann, 65, ist seit 2015 erster Vorsitzend­er der Gewerkscha­ft IG Metall. Das SPD‰Mitglied sitzt u. a. im VW‰Aufsichtsr­at.

 ?? Foto: Martin Schutt, dpa ?? Für Beschäftig­te, die heute noch Benzinmoto­ren herstellen, brechen harte Zeiten an. IG‰Metall‰Chef Jörg Hofmann fordert deshalb umfassende­re Weiterbild­ungsmöglic­hkei‰ ten für Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r, deren Arbeitsplä­tze durch die Transforma­tion gefährdet sind.
Foto: Martin Schutt, dpa Für Beschäftig­te, die heute noch Benzinmoto­ren herstellen, brechen harte Zeiten an. IG‰Metall‰Chef Jörg Hofmann fordert deshalb umfassende­re Weiterbild­ungsmöglic­hkei‰ ten für Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r, deren Arbeitsplä­tze durch die Transforma­tion gefährdet sind.
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