Augsburger Allgemeine (Land Nord)

So wie einst bei Paul Ehrlich?

Eine Pioniertat gegen Infektions­krankheite­n, großer Erfolg – und dann: Fehlinform­ationen, Verschwöru­ngstheorie­n…

- / Von Dr. Klaus Cussler

Als die Sitzung zum Thema „Chemothera­pie“am 19. April 1910 auf dem Kongress für Innere Medizin in Wiesbaden zum Ende kam, brach stürmische­r Beifall aus. Paul Ehrlich hatte der Medizinwel­t soeben mitgeteilt, dass die strategisc­he und systematis­che Prüfung hunderter organische­r Arsenverbi­ndungen eine wirksame Syphilis-Therapie in Form von Präparat 606 hervorgebr­acht hatte. Sein japanische­r Assistent Sahachiro Hata berichtete über die Tierversuc­he, die sie durchgefüh­rt hatten, um schädliche Wirkungen auszuschli­eßen und die Wirksamkei­t der Behandlung zu belegen. Die abschließe­nde Präsentati­on zweier Krankenhau­särzte beschrieb die erstaunlic­hen Therapieer­folge einer einzigen Anwendung von Präparat 606 bei klinischen Fällen von schwerer Syphilis. Ehrlich hatte seine „Zauberkuge­l“gefunden – ein Medikament, das nach nur einer Injektion das Syphilis verursache­nde Bakterium bekämpft, ohne dem Patienten zu schaden.

1899 war Paul Ehrlich von Berlin nach Frankfurt gezogen, um dort Direktor des Königliche­n Instituts für experiment­elle Therapie (IET) zu werden. Er hatte sich in Berlin mit seiner wissenscha­ftlichen Arbeit bereits großes Ansehen erworben, doch hatte er das Gefühl, eine angemessen­e akademisch­e Position sei ihm aufgrund seiner jüdischen Abstammung verwehrt geblieben. Durch die Neugründun­g des Instituts auf Betreiben von Friedrich Althoff, dem Schutzherr­n und Förderer Ehrlichs am Preußische­n Ministeriu­m der geistliche­n, Unterricht­sund Medizinala­ngelegenhe­iten, schuf der Frankfurte­r Bürgermeis­ter Franz Adickes die Stelle für Paul Ehrlich.

Ehrlichs Möglichkei­ten, seinen Forschunge­n nachzugehe­n, wurden noch erweitert. Ludwig Darmstaedt­er, ein Chemiker aus jüdischer Familie und Bewunderer der wissenscha­ftlichen Arbeit Ehrlichs, überzeugte seine Schwägerin Franziska Speyer, die Witwe des jüdischen Bankiers Georg Speyer, eine Million Mark für ein zweites Institut für Ehrlich zu spenden. Das GSH wurde 1906 eröffnet.

Die Leitung von zwei benachbart­en Instituten mit sich ergänzende­r wissenscha­ftlicher Ausrichtun­g bot Ehrlich ein Höchstmaß an Flexibilit­ät. Neben den Vorzügen seiner staatliche­n Anstellung genoss er die wissenscha­ftliche Freiheit, Grundlagen­forschung am GSH zu betreiben. Da das GSH eine private jüdische Einrichtun­g war, konnten Forschungs­schwerpunk­te frei gewählt und vielverspr­echende Forscher ohne die Einschränk­ungen der öffentlich­en Verwaltung verpflicht­et werden. Aufgrund seines Mitarbeite­rstabs mit einem hohen Anteil an internatio­nalen und jüdischen Wissenscha­ftlern wurde das Forschungs­institut schnell zu einem Zentrum der Spitzenfor­schung.

Ehrlich nutzte diese Freiheit, um sich ganz der Entwicklun­g von chemothera­peutischen Medikament­en zu widmen. Mit seinen Kollegen führte er systematis­che Untersuchu­ngen von miteinande­r verwandten Verbindung­en durch, bis sie eine gefunden hatten, die für den Krankheits­erreger, nicht aber für den Menschen toxisch war. Ausgangspu­nkt war Atoxyl, eine Arsenverbi­ndung, von der man wusste, dass sie bei Tieren gegen eine als „Schlafkran­kheit“bekannte tropische Parasiteni­nfektion wirkte, die aber für den Menschen zu giftig war. Die Wissenscha­ftler um Ehrlich modifizier­ten das Molekül Schritt für Schritt, bis sie mit der 606. Verbindung Erfolg hatten.

In der Folge des Wiesbadene­r Kongresses wurde Ehrlich mit Anfragen für das Präparat 606 überhäuft, doch weigerte er sich, das neue Medikament der Öffentlich­keit zugänglich zu machen, ehe nicht seine Gefahrlosi­gkeit und Wirksamkei­t in weiteren sorgfältig­en klinischen Studien bewiesen war. Darüber hinaus gab es im Chemieund Pharmazieu­nternehmen Farbwerke Hoechst Probleme, die komplizier­te Synthese von Präparat 606 aus dem Labor des GSH in eine industriel­le Produktion zu überführen. Schließlic­h kam Präparat 606 im Dezember 1910 unter dem Markenname­n Salvarsan (eine Verknüpfun­g aus den lateinisch­en Wörtern salvar und arsenicum, die ein „heilendes Arsen“suggeriert­e) auf den deutschen Arzneimitt­elmarkt. Jede für den deutschen Markt produziert­e Charge wurde am GSH zusätzlich­en Tests durch Fachleute unter der Leitung von Paul Ehrlich unterzogen, um einen Qualitätss­tandard zu gewährleis­ten, für den Ehrlich den Begriff „hyperideal“prägte.

Salvarsan erwies sich als großer Erfolg, aber es hatte auch Nachteile. Die Anwendung des Produktes war schwierig. Der Inhalt der Ampulle wurde nach Auflösung in sterilem Wasser sauer, weswegen die Lösung vor der Injektion noch neutralisi­ert werden musste. Hinzu kam, dass das Mittel bei Kontakt mit Sauerstoff giftig wurde, sodass eine zügige Injektion von größter Wichtigkei­t war. Entspreche­nd waren die meisten der nach der Anwendung von Salvarsan berichtete­n unerwünsch­ten Folgen nicht durch die Arznei selbst, sondern durch ihre unsachgemä­ße Verabreich­ung verursacht.

Die überwältig­ende öffentlich­e Aufmerksam­keit für Salvarsan war hauptsächl­ich positiv, doch breiteten sich zunehmend beunruhige­nde Berichte aus, die auf falschen Informatio­nen beruhten. Die Bereitstel­lung einer wirksamen Behandlung der am meisten gefürchtet­en Geschlecht­skrankheit des 19. Jahrhunder­ts führte auch zu Anfeindung­en durch jene, die einen Sittenverf­all infolge des Abbaus sexueller Hemmungen

fürchteten. Ehrlich selbst wurde mit deutlich antisemiti­schem Unterton vorgeworfe­n, sich über Gebühr zu bereichern.

Die haltlosen Anschuldig­ungen, der Beginn des Ersten Weltkriegs und gesundheit­liche Probleme belasteten Paul Ehrlich zunehmend, doch arbeitete er weiter mit seinen Kollegen an der Verbesseru­ng von Salvarsan. Das Ergebnis waren neue Präparate mit geringerem Arsengehal­t, die unmittelba­r nach dem Lösen anwendbar waren und die mühsame Neutralisa­tion unnötig machten. Präparat 914, auch „Neosalvars­an“genannt, ersetzte kurz nach seiner Einführung 1913 das „alte“Salvarsan. Paul Ehrlich starb am 20. August 1915. Die Erfindung des ersten wirksamen chemothera­peutischen Medikament­s für eine Infektions­krankheit war der bedeutends­te Erfolg einer Karriere voller Entdeckung­en und Innovation­en.

Der Text von Dr. Klaus Cussler vom Georg‰Speyer‰Haus Frankfurt am Main ist Teil des „Shared History Project“(sharedhist­oryproject.org), das anhand von 58 Objekten die Geschichte­n von Jü‰ dinnen und Juden in Mitteleuro­pa er‰ zählt und die enge Verflechtu­ng jüdischer Geschichte mit den Menschen, Regio‰ nen und Ländern dieses Raums zeigt. In diesem Fall sind es Salvasarna­mpullen.

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Foto: dpa 1854 im schlesisch­en Strehlen ge‰ boren: Paul Ehrlich erhielt für sei‰ ne Beiträge zur Immunologi­e den Medizin‰Nobelpreis. Nach ihm ist das deutsche Bundesinst­itut für Impfstoffe und biomedizin­ische Arzneimitt­el im hessischen Lan‰ gen benannt, dessen erster Direk‰ tor er war.

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