Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Politik stolpert planlos in die nächste Corona-Falle
Eines hat die Pandemie gelehrt: Man sollte das Virus und seine Wellen nicht unterschätzen. Doch viele Verantwortliche machen immer wieder den gleichen Fehler
Die Hoffnung war groß: Sind erst mal genug Menschen geimpft, geht der CoronaAlbtraum zu Ende. Das hätte vermutlich genau zum Ende dieses verregneten Sommers funktioniert, wenn anderswo Politiker ihrer Verantwortung gerecht geworden wären, anstatt die Ausbreitung neuer Mutationen zu fördern. Die britische Variante, die brasilianische und nun auch die zunächst als indische Version bekannte Delta-Variante tragen nicht zufällig ihre alten Namen: In all diesen Ländern ignorierten Regierungschefs zunächst die Gefahr des Virus und ließen es durchlaufen.
Zuletzt ließ Indiens nationalistischer Regierungschef Narendra
Modi entgegen Expertenwarnungen riesige Religionsfeiern zu, die heute als Brutstätte der Delta-Variante gelten. Die Globalisierung ließ Indiens
Problem schnell um die Welt reisen. Nun gefährdet auch in Deutschland die hochansteckende und auch kränker machende Delta-Variante die so lange ersehnte Rückkehr zur Normalität.
Das Virus folgt kalt mathematischen Gesetzen. Zwar sind bald zwei Drittel der Deutschen vollständig geimpft. Doch nach ersten Erfahrungen lösen Delta-Infektionen dreimal mehr Intensivfälle aus als bisherige Varianten. Ein Teil des Impfeffekts geht damit theoretisch verloren, weil das Virus in der Masse der Ungeimpften, aber auch bei den Menschen mit schwächerem Immunsystem möglicherweise schlimmer wüten wird, wenn es in der kalten Jahreszeit Hochsaison hat.
Erste Zahlen aus NordrheinWestfalen nähren leider die Sorgen. Seit dort die Sommerferien vorbei sind, schießen nicht nur die Infektionszahlen nach oben. Auch die Zahl der Intensivpatienten wächst. Obwohl in NRW bereits 63 Prozent der Bevölkerung komplett geimpft sind, steigt die Zahl der Intensivpatienten genauso rasant wie bei der zweiten Welle im vergangenen Jahr.
Erst die kommenden Wochen werden zeigen, ob die Entwicklung ohne verschärfte Gegenmaßnahmen noch abzubremsen ist.
Die Politik sollte in der Pandemie wenigstens eines gelernt haben:
Man darf die Gefahr des Virus und neuer Wellen nie unterschätzen.
Und ebenso die Wirkung einzelner Maßnahmen nie überschätzen. Zunächst dachten viele, man könne Corona
durch Abstand aufhalten, dann durch Masken und dann durch eine Smartphone-App bezwingen.
Alle sind nun gut beraten, die Impfungen nicht als Allheilmittel zu überschätzen, selbst wenn sie die wirkungsvollsten Waffen gegen das Virus sind. Doch viele Verantwortliche drohen exakt die gleichen Fehler zu machen wie am Ende des vergangenen Sommers. Sie schüren falsche Hoffnungen und machen kaum haltbare Versprechungen. Wieder fehlt die Vorbereitung. Es ist seit langem klar, dass die Inzidenzwerte angesichts der Impfungen neu angepasst werden müssen. Dennoch stolpern Bund und Länder planlos ohne klare Ersatzlösung in den Corona-Herbst.
Das Versprechen, die Schulen auf jeden Fall offen zu halten, ist nicht besser vorbereitet als im vergangenen Jahr. Wer mutwillig das Experiment wagt, die bislang gefährlichste Corona-Variante unter Schulkindern durchlaufen zu lassen, riskiert ein größeres Verbrechen an der jungen Generation als schon die Unterrichtsausfälle und die dilettantische Vorbereitung der Schulen, sollten hunderte Kinder auf Intensivstationen landen.
Auch in der wichtigsten Frage bleibt die Politik seltsam ambitionslos: Es reicht nicht nur, ein „Impfangebot“zu machen. Wie man aus der Wirtschaft wissen sollte, muss man auch dafür werben und das Angebot zu den Menschen bringen. So wie man überall auf kleine Testzentren stößt, sollten die Menschen im Alltag auf Impfteams treffen. Dies wäre im Interesse aller.
Wieder erklingen kaum haltbare Versprechen