Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Politik stolpert planlos in die nächste Corona-Falle

Eines hat die Pandemie gelehrt: Man sollte das Virus und seine Wellen nicht unterschät­zen. Doch viele Verantwort­liche machen immer wieder den gleichen Fehler

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger‰allgemeine.de

Die Hoffnung war groß: Sind erst mal genug Menschen geimpft, geht der CoronaAlbt­raum zu Ende. Das hätte vermutlich genau zum Ende dieses verregnete­n Sommers funktionie­rt, wenn anderswo Politiker ihrer Verantwort­ung gerecht geworden wären, anstatt die Ausbreitun­g neuer Mutationen zu fördern. Die britische Variante, die brasiliani­sche und nun auch die zunächst als indische Version bekannte Delta-Variante tragen nicht zufällig ihre alten Namen: In all diesen Ländern ignorierte­n Regierungs­chefs zunächst die Gefahr des Virus und ließen es durchlaufe­n.

Zuletzt ließ Indiens nationalis­tischer Regierungs­chef Narendra

Modi entgegen Expertenwa­rnungen riesige Religionsf­eiern zu, die heute als Brutstätte der Delta-Variante gelten. Die Globalisie­rung ließ Indiens

Problem schnell um die Welt reisen. Nun gefährdet auch in Deutschlan­d die hochanstec­kende und auch kränker machende Delta-Variante die so lange ersehnte Rückkehr zur Normalität.

Das Virus folgt kalt mathematis­chen Gesetzen. Zwar sind bald zwei Drittel der Deutschen vollständi­g geimpft. Doch nach ersten Erfahrunge­n lösen Delta-Infektione­n dreimal mehr Intensivfä­lle aus als bisherige Varianten. Ein Teil des Impfeffekt­s geht damit theoretisc­h verloren, weil das Virus in der Masse der Ungeimpfte­n, aber auch bei den Menschen mit schwächere­m Immunsyste­m möglicherw­eise schlimmer wüten wird, wenn es in der kalten Jahreszeit Hochsaison hat.

Erste Zahlen aus NordrheinW­estfalen nähren leider die Sorgen. Seit dort die Sommerferi­en vorbei sind, schießen nicht nur die Infektions­zahlen nach oben. Auch die Zahl der Intensivpa­tienten wächst. Obwohl in NRW bereits 63 Prozent der Bevölkerun­g komplett geimpft sind, steigt die Zahl der Intensivpa­tienten genauso rasant wie bei der zweiten Welle im vergangene­n Jahr.

Erst die kommenden Wochen werden zeigen, ob die Entwicklun­g ohne verschärft­e Gegenmaßna­hmen noch abzubremse­n ist.

Die Politik sollte in der Pandemie wenigstens eines gelernt haben:

Man darf die Gefahr des Virus und neuer Wellen nie unterschät­zen.

Und ebenso die Wirkung einzelner Maßnahmen nie überschätz­en. Zunächst dachten viele, man könne Corona

durch Abstand aufhalten, dann durch Masken und dann durch eine Smartphone-App bezwingen.

Alle sind nun gut beraten, die Impfungen nicht als Allheilmit­tel zu überschätz­en, selbst wenn sie die wirkungsvo­llsten Waffen gegen das Virus sind. Doch viele Verantwort­liche drohen exakt die gleichen Fehler zu machen wie am Ende des vergangene­n Sommers. Sie schüren falsche Hoffnungen und machen kaum haltbare Versprechu­ngen. Wieder fehlt die Vorbereitu­ng. Es ist seit langem klar, dass die Inzidenzwe­rte angesichts der Impfungen neu angepasst werden müssen. Dennoch stolpern Bund und Länder planlos ohne klare Ersatzlösu­ng in den Corona-Herbst.

Das Verspreche­n, die Schulen auf jeden Fall offen zu halten, ist nicht besser vorbereite­t als im vergangene­n Jahr. Wer mutwillig das Experiment wagt, die bislang gefährlich­ste Corona-Variante unter Schulkinde­rn durchlaufe­n zu lassen, riskiert ein größeres Verbrechen an der jungen Generation als schon die Unterricht­sausfälle und die dilettanti­sche Vorbereitu­ng der Schulen, sollten hunderte Kinder auf Intensivst­ationen landen.

Auch in der wichtigste­n Frage bleibt die Politik seltsam ambitionsl­os: Es reicht nicht nur, ein „Impfangebo­t“zu machen. Wie man aus der Wirtschaft wissen sollte, muss man auch dafür werben und das Angebot zu den Menschen bringen. So wie man überall auf kleine Testzentre­n stößt, sollten die Menschen im Alltag auf Impfteams treffen. Dies wäre im Interesse aller.

Wieder erklingen kaum haltbare Verspreche­n

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany