Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Versagen ist das falsche Wort. Es ist schlimmer“

Die Rettung von Bundeswehr-Ortskräfte­n hätte man frühzeitig planen und beginnen können. Doch das geschah nicht. Die Augsburger Menschenre­chtsanwält­in Maja von Oettingen erhebt schwere Vorwürfe gegen die Bundesregi­erung

- Interview: Simon Kaminski

Frau von Oettingen, Sie haben seit Jahren Frauen und Männer aus Afghanista­n, die ihre Heimat verlassen haben, als Klienten. Aus welchen Schichten kommen die Menschen?

Maja von Oettingen: Ich bin seit 20 Jahren als Anwältin für Migrations­recht, so der Fachbegrif­f, tätig. Ich schätze, dass derzeit rund 60 bis 70 Prozent meiner Klienten aus Afghanista­n kommen. Eine Mehrheit darunter sind Männer, aber ich habe auch schon einzelne Frauen und Familien vertreten. Viele unter ihnen sind Hazara, das ist eine ethnische Minderheit in dem Vielvölker­staat, die einen relativ liberalen islamische­n Glauben lebt. Diese Leute, die man an ihren asiatische­n Gesichtszü­gen erkennt, sind extrem bedroht durch die brutale Gewalt der Taliban. Es reicht aus, sich zu weigern, an der Seite der Taliban zu kämpfen, um in Lebensgefa­hr zu geraten. Ich habe Afghanen bei mir in der Kanzlei gehabt, die Folterspur­en aufwiesen. Was manchen von ihnen dort angetan wurde, ist kaum zu beschreibe­n.

Die Menschen, die zu Ihnen kommen, haben oft eine lange Flucht hinter sich. Wie gestaltet sich die Arbeit mit Ihnen?

Von Oettingen: Tatsächlic­h sind viele durch Erlebnisse in ihrer Heimat, aber auch auf der Flucht stark traumatisi­ert. Dennoch sind fast alle sehr höflich und respektvol­l – auch mir als Frau gegenüber. Vor allem sind sie sehr darauf fokussiert, in Deutschlan­d Fuß zu fassen. Wir haben ja oft das Bild von wild gekleidete­n Männern mit langen Bärten vor Augen. Doch dieses Bild passt so gar nicht mit dem Bild zusammen, das ich durch meine jahrelange Praxis von den Afghanen gewonnen habe.

Es gibt ja immer wieder Zweifel daran, dass Syrer, Iraker oder eben Afghanen bereit sind, sich zu integriere­n?

Von Oettingen: Ich betreue ja auch Asylsuchen­de aus anderen Ländern. Im Vergleich ist die Integratio­nsbereitsc­haft der Afghanen am höchsten. Ich bin immer wieder verblüfft, wie schnell die Afghanen Deutsch lernen. Bei den ersten Terminen kommen sie noch mit Dolmetsche­r, dann ohne. Die Afghanen sind sehr disziplini­ert, die Kinder und Jugendlich­en, die eine Lehre machen, haben in der Schule kaum Fehlzeiten. Sie schütteln oft den Kopf, wenn sie in den Flüchtling­sunterkünf­ten mitbekomme­n, dass Angehörige anderer Nationen über die Unterbring­ung schimpfen. Dazu muss man wissen, dass sie in Afghanista­n oft in einfachste­n, ärmlichen Verhältnis­sen gelebt haben.

Es gibt doch aber auch Fälle, in denen Afghanen gewalttäti­g werden.

Von Oettingen: Heilige sind die Afghanen natürlich nicht. Es gibt in seltenen Fällen auch Straftaten. Es sind auch schon Sexualstra­ftäter zu mir gekommen. Darunter war ein Mann, der eine Frau vergewalti­gt hat. Mein Eindruck ist allerdings, dass unter den Afghanen Straftäter die absolute Ausnahme sind. Die meisten setzen alles daran, möglichst schnell Arbeit zu finden. Natürlich auch, um ihren Familien in der Heimat Geld zu schicken. Die Familie ist in Afghanista­n sehr wichtig, die Leute leiden hier wie die Hunde unter der Trennung von ihren Verwandten.

Jetzt ist ja die Lage in Afghanista­n eskaliert. Waren Sie selber überrascht, wie schnell der Machtwechs­el dann ablief?

Von Oettingen: Nicht wirklich. Gut, dass die Offensive auf Kabul nach einem Tag beendet war, habe ich nicht gedacht. Aber dass der Machtwechs­el bevorstehe­n würde, konnte jeder wissen, der es wissen wollte.

Hatten Sie schon vor dem Sieg der Taliban die Befürchtun­g, dass Ortskräfte der Bundeswehr oder einheimisc­he Mitarbeite­r der verschiede­nen Hilfsorgan­isationen in der Falle sitzen könnten?

Von Oettingen: Natürlich. Ich betreue schon seit Jahren Ortskräfte der Nato. Das Gros darunter sind Dolmetsche­r. Für die Taliban sind das Verräter. Schon lange vor der Machtübern­ahme haben sie den Familien Briefe geschriebe­n. Dort hieß es, dass sie mit der Strafe Gottes, also der Todesstraf­e, rechnen müssten, wenn sie weiter für die Ausländer arbeiten würden. Die Taliban haben ja in vielen Regionen seit Jahren einen Parallelst­aat mit Verwaltung und eigener Rechtsprec­hung installier­t. Dazu gab und gibt es ein unglaublic­h dichtes Netz von Checkpoint­s. Deswegen war der Machtwechs­el ja so einfach, die Strukturen bestanden bereits.

Gibt es keine Chance, sich dem zu entziehen?

Von Oettingen: Das ist fast unmöglich. Wenn jemand sich beispielsw­eise in Kabul bedroht fühlt, kann er nicht einfach nach Herat ziehen, weil die Afghanen innerhalb ihrer Ethnie und ihrer Familie leben. Dort fällt er unweigerli­ch als Fremder auf und würde sofort das Misstrauen der Taliban erregen.

Die Kritik daran, dass Ortskräfte ihrem Schicksal überlassen werden, wird lauter. Wer hat versagt?

Von Oettingen: Versagen ist nicht das richtige Wort. Es ist schlimmer. Teile der Bundesregi­erung, insbesonde­re das Innenminis­terium von Horst Seehofer, wollten lange nicht, dass tausende von Ortskräfte­n nach Deutschlan­d kommen. Schon gar nicht vor der Bundestags­wahl. Alles wurde verzögert, nichts vorbereite­t. Bis vor kurzem wollte Seehofer ja noch in das Chaos hinein Afghanen abschieben – es wurden, anders als er behauptet, nicht nur Straftäter abgeschobe­n. Es ist doch schizophre­n, dass man die Leute nicht zusammen mit den Soldaten nach Deutschlan­d gebracht hat. Jetzt schickt man Soldaten wieder zurück zum Flughafen nach Kabul, um sie nun doch herauszube­kommen. Damit gefährdet man nun auch noch das Leben der Frauen und Männer bei der Bundeswehr.

Auch Angehörige der Bundeswehr sind entsetzt – wie Marcus Grotian, Vorsitzend­er des Patenschaf­tsnetzwerk­s Afghanisch­e Ortskräfte. Hat Grotian mit seiner scharfen Kritik an der Bundesregi­erung recht?

Von Oettingen: Ich komme aus einer Bundeswehr-Familie, mein Bruder und mein Vater waren in Auslandsei­nsätzen. Ich selbst war im Referendar­iat beim Wehrdiszip­linaranwal­t des Führungsko­mmandos in Potsdam. Die Soldaten sind abhängig von den Informatio­nen der Ortskräfte. Es ist doch klar, dass aus den Ortskräfte­n über die Jahre Bekannte, ja Freunde wurden. Jetzt leiden viele Bundeswehr­soldaten sehr darunter, dass man diese Leute im Stich lässt. Sie bekommen Anrufe, in denen die Ortskräfte darum betteln, gerettet zu werden. Das ist eine Tragödie, die mich wütend macht. Dafür gibt es Verantwort­liche, wie Seehofer, Außenminis­ter Heiko Maas und Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r.

Was muss jetzt geschehen, um möglichst viele der von der Rache der Taliban bedrohten Menschen zu retten?

Von Oettingen: Das wird jetzt immer schwerer. Die Option Ausfliegen über den Flughafen gibt es ja nun nicht mehr. Man wird nun mit den Taliban verhandeln müssen. Ob das funktionie­rt, ist völlig ungewiss. Aber der Westen hat sich in ihre Hand begeben, ist erpressbar.

Sind die Warnungen vor einer Fluchtwell­e aus Afghanista­n gerechtfer­tigt?

Von Oettingen: Das glaube ich nicht. Sicher werden viele junge Afghanen versuchen, das Land zu verlassen, aber ob sie es zu uns schaffen, ist sehr fraglich. Europa hat sich abgeschott­et. Mit Syrien kann man das nicht vergleiche­n. Das war im Vergleich zu Afghanista­n ein hoch entwickelt­es Land. Da gab es eine Mittelschi­cht, die sich die teure Flucht leisten konnte.

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Archivfoto: Maurizio Gambarini, dpa Ein afghanisch­er Dolmetsche­r der Bundeswehr (Zweiter von rechts) spricht mit einem Einheimisc­hen an einem Checkpoint bei Kundus. Die Ortskräfte gelten bei den Taliban als Verräter. Jetzt fürchten sie um ihr Leben.
 ??  ?? Maja von Oettingen, 51, geboren in Celle, arbeitet seit 20 Jahren als Men‰ schenrecht­sanwältin in Augsburg.
Maja von Oettingen, 51, geboren in Celle, arbeitet seit 20 Jahren als Men‰ schenrecht­sanwältin in Augsburg.

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