Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Traum vom grünen „Kanzler

Annalena Baerbock will die Grünen an die Regierungs­spitze führen. Sie legte vielverspr­echend los, doch Entmutigen lässt sie sich davon nicht. Doch hat die 40-Jährige leichtfert­ig eine historisch­e Chance für ihre Par

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Die Tragik der Annalena Baerbock ist, dass man sie sich nicht ohne Robert Habeck denken kann. Sie könnte mit Armin Laschet eine Selbsthilf­egruppe aufmachen. Laschets Habeck heißt Markus Söder. Vieles, was Baerbock falsch gemacht hat, macht auch Laschet falsch. Aber es soll hier nicht um den schlingern­den Kanzlerkan­didaten von CDU und CSU gehen, sondern um die erste Kanzlerkan­didatin der Grünen überhaupt. Annalena Charlotte Alma Baerbock, geboren am 15. Dezember 1980. Als sie nach der Macht griff, wollte sie „nicht die Frau an Roberts Seite“sein. Jetzt ist sie es doch. Es liegt eine feine Ironie darin, dass sie im internen Kandidaten­duell einen Mann ausstach, weil sie das richtige Geschlecht hat, um dann komplett von ihm abhängig zu sein. Wegen ihrer Schwäche muss sie jetzt Habeck nach vorne schieben, damit ihre Partei nicht weiter in den Umfragen abschmiert.

Wie konnte es dazu kommen? Dafür gibt es strukturel­le Gründe und persönlich­e. Annalena Baerbock hat Fehler gemacht. Zielsicher springt sie in Fettnäpfe wie ein Frosch in den nächsten Tümpel. Da waren die zu spät gemeldeten Honorare, die sie von ihrer Partei als Co-Vorsitzend­e für die Leistung in der Corona-Zeit erhalten hat. Da war der aufgeblase­ne Lebenslauf, in dem sie sich zur Büroleiter­in erklärte, obwohl sie nur eine Vertretung war. Da war das zusammenge­schusterte Buch mit zu vielen abgeschrie­benen Passagen, um

einernur als intellektu­ell zu gelten. Das alles von der Kandidatin Partei, die der organisier­te erhobene Zeigefinge­r ist. Baerbock hat es geschafft, ihre Glaubwürdi­gkeit durch die stetige Produktion neuer Skandälche­n zu ruinieren.

Könnten die Wählerinne­n und Wähler den Kanzler direkt wählen, würden sich derzeit nur noch zwölf Prozent für die Kandidatin der Grünen entscheide­n. Kurz nach ihrer gefeierten Kür im April waren es immerhin beinahe 30 Prozent. Das war zwar kein berauschen­der Wert, aber damit lag sie deutlich vor ihren Konkurrent­en Armin Laschet und Olaf Scholz. „Ja, es gab Rückschläg­e auch in der Kandidatur“, sagt Baerbock heute über ihre Patzer. Sie bemüht sich, das Schuldeing­eständnis in einem Satz abzuhandel­n. Das haben ihr die Kommunikat­ionsberate­r aufgeschri­eben. Nach Pannen gilt es, vor der Öffentlich­keit den Kotau zu machen. Aber nicht zu tief, um im gleichen Atemzug auf die großen Herausford­erungen zu verweisen, die es zu bewältigen gilt.

Bei den Grünen ist das die Erwärmung der Erde, die Dürren, Stürme und Fluten von Jahrhunder­tereigniss­en zur neuen Normalität werden lässt. Baerbocks Partei schreiben die Wähler ohne Zweifel die größte Kompetenz zu, den Kampf gegen den Klimawande­l entschiede­n aufzunehme­n. Doch angesichts von Katastroph­en wie dem Hochwasser im Westen Deutschlan­ds wünschen sie sich jemanden im Kanzleramt, dem sie zutrauen, unter extremer Belastung konzentrie­rt und mit kühlem Kopf zu entscheide­n. Dieses Gefühl kann Annalena Baerbock nicht vermitteln, was auch mit ihrem Charakzu tun hat. Wer sie in Hintergrun­dgespräche­n erlebt, wenn Mikros und Kameras ausgeschal­tet sind, erlebt einen klugen Kopf, aus dem die Gedanken sprudeln. Sie redet ohne Punkt und Komma. Dabei passiert es, dass die Sätze kein Ende finden oder die Grammatik verrutscht. Zu Baerbock gehört es aber auch, dass sie mit den Gedanken schon woanders ist, wenn sie Wahlkampf macht, und sie deshalb Aussetzer hat, die sie dumm wirken lassen. In einer Rede schreibt sie die Einführung der sozialen Marktwirts­chaft den Sozialdemo­kraten zu, als wäre der legendäre Wirtschaft­sminister Ludwig Erhard in der SPD gewesen.

Ein Schnitzer passierte ihr auch Anfang August, als sie mit Habeck das erste Mal wieder gemeinsam auftrat. Der Termin war wichtig für die angeschlag­ene Kandidatin, denn es war die sichtbare Rückkehr Habecks an ihre Seite, auf die sie gerne verzichtet hätte. Es hätte gut ausgehen können. An einer Hütte der Naturfreun­de bei Biesenthal im Norden Berlins verkündete­n

beiden Grünen-Vorsitzend­en ein Klimaschut­zsofortpro­gramm. Die kleine Wiese säumten hohe Buchen, ein Greifvogel ließ seinen Schrei hören. Ein Experte des Naturschut­zbundes (NABU) führte die beiden zum Abschluss durch das trockengel­egte Moor, das die Naturschüt­zer wieder unter Wasser setzen wollen. Baerbock hörte angeregt zu, unterhielt sich freundlich mit einem herbeigeei­lten Stadtrat des Städtchens Biesenthal, der das sogenannte Verwässern des Moores mit gemischten Gefühlen sieht. Doch kurz vor dem Ende der Paartherap­ie im Grünen passierte es. Baerbock verortete sich selbst und das idyllische Fleckchen, auf dem sie gerade Wahlkampf machte, in den Oderbruch. Der Oderbruch liegt viel weiter östlich an der Grenze zu Polen. Habeck bemerkt den Klops sofort. Er weiß in solchen Momenten dann nicht recht, wohin mit sich. Er steckt die Hände in die Hosentasch­en, atmet tief ein, blickt zur Seite, als sei ihm die Kanzlerkan­didatin unfassbar peinlich. Man muss dazu wissen, dass Baerbock früher Landesvors­itzende der Grünen in Brandenbur­g war.

Die Szene verdichtet das schwierige Verhältnis an der Spitze der Grünen. Der unterlegen­e Habeck muss den zweiten Offizier auf einem trudelnden Schiff geben, während er gerne Kapitän geworden wäre und die Wähler ihn auch für besser geeignet halten. Wenige Tage nachdem sich seine Co-Vorsitzend­e die Kandidatur mit der Frauenkart­e gegriffen hatte, teilte er in einem ausführlic­hen Interview in der Wochenzeit­ung Zeit seine Enttäuschu­ng und seinen Schmerz mit der Öffentlich­keit. „Nichts wollte ich mehr, als dieser Republik als Kanzler zu dienen.“Die

Chancen für den Politik-Philosophe­n aus dem hohen Norden standen gut. Er ist beliebter als seine Parteifreu­ndin, die ihm den schmerzhaf­testen Tag in seiner Karriere zugefügt hat.

Die persönlich­en Schwächen der Kanzlerkan­didatin sind das größte, aber nicht das einzige Problem des Grünen-Wahlkampfs. Sie werden durch die organisato­rischen Probleme der Partei verdoppelt. Die anderen Parteien sind verdutzt und überrascht, dass die Grünen vollständi­g in die Defensive geraten sind. Drei, vier Schläge genügten, und die surrende Wahlkampfm­aschine geriet aus dem Takt. Eigentlich wollten sie offen bleiben, hässliche Angriffe im Wahlkampf durch Ironie und Dialog parieren. Doch es geschah das Gegenteil und sie zogen sich in die Schützengr­äben zurück. Bis dato galt Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner als brillanter Stratege, der es geschafft hatte, dass nichts vor der Zeit darüber nach außen drang, ob es Habeck oder Baerbock machen würden. Im geschwätzi­gen Berlin galt das als Meisterlei­stung. Doch weder hatte Kellner eine Antwort auf die erwartbare Benzinprei­sdebatte parat noch prüfte er den Lebenslauf der Kanzlerkan­didatin auf Ungereimth­eiten. Beides sind Anfängerfe­hler.

Ihm und seinem Stab fällt derzeit nichts Zündendes ein, um wieder in die Offensive zu kommen. Für die jüngsten Versuche kassierten die Grünen nur noch Spott. In einem Wahlkampfv­ideo verhackstü­ckten sie das Volkslied „Kein schöner Land“. Eine Schar Grünen-Anhänger sang in schiefen Tönen eigens gedichtete Textzeilen auf die bekannte Melodie. Habeck und Baerbock sangen nicht, sondern sprachen ihre Textfetzen ein. Selbst der Partei wohlter gesonnene Journalist­en schämten sich fremd. Das gemeinsame Trällern auf anderthalb Minuten war eine Reminiszen­z an die Anfänge der Öko-Bewegung, als langhaarig­e Barden Politische­s klampften.

Nur kurz davor spielte das Hauptquart­ier die Forderung nach einer Förderung für Lastenräde­r aus. Eine Milliarde Euro soll es für das Lieblingss­pielzeug der urbanen Großstadtf­amilie geben. Im dazugehöri­gen Weltbild schaffen die Besitzer ihr Auto ab und betreiben aktiven Klimaschut­z. In der Wirklichke­it leistet sich die studierte und wohlsituie­rte Kernwähler­schaft der Grünen natürlich trotzdem einen Wagen. Und zwar, weil sie es finanziell kann. In ländlichen Regionen hingegen sind Lastenräde­r ein exotisches Fortbewegu­ngsmittel, und an die Abschaffun­g des eigenen Autos denkt ohnehin kein Mensch.

Diese beiden jüngsten Wahlkampfm­anöver zielen also auf die Stammkunde­n in den großen Städten. Eigentlich wollten die Grünen ein Angebot an alle Wählerinne­n und Wähler machen, um am 26. September stärkste Kraft werden zu können. Doch dieser Ansatz ist nicht mehr durchzuhal­ten. In der Provinz sorgt man sich um steil steigende Spritkoste­n, wenn die Grünen wie geplant die CO2-Abgabe hochsetzen. Das Wahlprogra­mm sieht sogar ausdrückli­ch vor, dass jeder ein Energiegel­d von 75 Euro bekommt, um die Mehrkosten für Tanken und Heizen ausgleiche­n können.

Doch was der 40-Jährigen nicht gelingt, ist, Programm und Person glaubhaft zu verschmelz­en. Sie sagt zwar, sie wisse, „dass man im ländlichen Raum sein Auto braucht“, und betont, dass sie vom Dorf komme. Aber es bleibt eine Distanz zu der Wählerschi­cht, die mit den Grünen immer

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Robert Habeck macht keinen Hehl daraus, dass er gerne Kanzlerkan­didat der Grünen geworden wäre. Je schlechter die Umfragen wur‰ den, umso mehr Mitglieder stellten sich die Frage, ob die Partei wirklich auf die richtige Kandidatin setzt.
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Foto: Oliver Berg, dpa Plakate mit dem Slogan „Grüner Mist“unterstell­en den Grünen eine Nähe zu Totalitari­smus und Sozialismu­s.

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